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Kuehler Grund

Titel: Kuehler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Booth
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Vernon.«
    »Der würde nie im Leben dichthalten. Tut mir Leid, wenn ich das sagen muss, Harry. Aber wenn der Knabe Dreck am Stecken hätte und unter Verdacht stünde, würde er garantiert singen wie ’ne Kreissäge.«
    Harry schmunzelte leise. Genau wie Sam hatte er den Slangausdruck am Abend vorher im Fernsehen gehört, in einer Krimiserie, die in der Londoner Drogenszene spielte und wo die Polizisten schlimmere Verbrechervisagen hatten als die Verbrecher.
    »Und? Hat er?«, fragte Wilford plötzlich.
    »Hat wer was?«
    »Hat Andrew Milner Dreck am Stecken?«
    »Dass ich nicht lache«, antwortete Harry. »Unsere Margaret kennt ihn in- und auswendig, bis zum kleinsten Loch in der Socke. Der arme Trottel könnte nicht mal einen Pickel am Popo geheim halten.«
    »Aber die Polizei ist sowieso unfähig«, sagte Sam. »Sie wissen nie, mit wem sie reden müssen oder welche Fragen sie stellen sollen. Wenn die hier bei uns was aufklären wollen, muss ihnen schon Kommissar Zufall helfen.«
    Wilford lachte. »Nicht wie im Fernsehen, Sam.«
    »Im Fernsehen kriegen sie den Täter immer. Ist doch auch klar. Es sind bloß Geschichten. Deshalb werden sie ja im Fernsehen gezeigt.«
    »Dabei werden sie gar nicht geschnappt«, sagte Sam. »Jedenfalls nicht im richtigen Leben. Die eine Hälfte wird nie erwischt. Und die paar, die doch gefasst werden, lässt der Richter wieder laufen. Sie kriegen Bewährung oder … Wie heißt das noch?«
    »Sozialdienst«, sagte Harry langsam, als ob er das Wort noch nie laut ausgesprochen hätte, sondern es nur vom Hörensagen oder aus den Gerichtsreportagen des Buxton Advertiser kannte.
    Sam verzog den Mund. »Aye. Sozialdienst. Und so was nennt sich Strafe? Die Halunken zu ehrlicher Arbeit zu zwingen? Da kann man sie genauso gut gleich freisprechen. Es stimmt schon, heutzutage kommt man mit allem ungeschoren davon. Sogar mit Mord.«
    »Aber die Leute, die vor dem Fernseher sitzen, wissen das nicht«, sagte Wilford. »Die meisten haben nicht die leiseste Ahnung. Sie denken, was sie in der Flimmerkiste sehen, ist das wahre Leben. Vor allem die Kinder. Und natürlich die Frauen. Die kennen den Unterschied nicht. Sie denken, wenn jemand ein Verbrechen begangen hat, kommt der gute alte Inspector Morse aus dem Fernsehen, setzt sich mit seinem Bleistift und einem Stück Papier in eine Kneipe, tüftelt gemütlich aus, wer der Täter ist, und schon sitzt der Mörder hinter Gittern.«
    »Hinter Gittern, genau. Lebenslänglich.«
    Sie versanken wieder in Schweigen, starrten auf die Biergläser und versuchten sich vorzustellen, wie es wohl sein mochte, den Rest seines Lebens im Gefängnis zu verbringen. Eine lebenslange Freiheitsstrafe konnte zehn, zwanzig oder sogar dreißig Jahre bedeuten – für einen Mann, der die siebzig oder achtzig überschritten hatte, lief es auf das Gleiche hinaus. Er würde nie wieder herauskommen.
    »Nie mehr an die frische Luft zu kommen, das muss schrecklich sein«, sagte Sam.
    Die beiden anderen nickten und drehten automatisch den Kopf zum Fenster, wo trotz der Dämmerung die Umrisse der Witches zu erkennen waren, die sich schwarz und zerklüftet vom südlichen Himmel abhoben. Ein unbehagliches Gefühl machte sich am Tisch bemerkbar. Sam fröstelte und packte unwillkürlich seinen Stock fester, als ginge von dem glatten Elfenbein etwas Beruhigendes aus. Wilford kratzte sich nervös am Kopf und griff nach seinem Glas. Selbst Harry wirkte plötzlich verschlossener und eine Spur vorsichtiger.
    »Nein. Das wäre nicht zum Aushalten«, sagte er. »Ums Verrecken nicht.«
    Die drei alten Männer sahen sich von der Seite an, sie verstanden sich auch ohne Worte. Eine bedächtige Handbewegung oder eine bestimmte Neigung des Kopfes genügte. So hatten sie sich schon während ihres Arbeitslebens miteinander verständigt, abgeschnitten vom Rest der Welt, abgesondert in einer Umgebung, in der das Sprechen überflüssig und manchmal sogar unmöglich gewesen war. Noch immer konnten sie die Welt einfach ausblenden, so taub und blind für das lärmende Treiben im Wirtshaus, als wären sie wieder in einem dunklen Stollen, anderthalb Kilometer unter der Erde.
    Sam kramte eine Schachtel Embassy und Streichhölzer heraus und zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch, der reglos in der Luft stand und sein Gesicht verschleierte, ließ ihn blinzeln. Wilford fuhr sich mit den schmutzigen Fingern durch das Haar, wobei für einen Augenblick eine unnatürlich weiße, kahle Stelle zum Vorschein kam, an

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