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Kuehler Grund

Titel: Kuehler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Booth
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der sich die Kopfhaut, dünn wie Papier, über dem Knochen spannte. Harry nestelte an seiner kalten Pfeife und schob mit dem Stiel ein paar verdeckt auf dem Tisch liegende Dominosteine auseinander. Er starrte sie gebannt an, als ob er durch die gemusterten Rückseiten die Zahlen erkennen könnte.
    »Aber es gibt sicher auch welche, denen würde ihre Tat schwer auf dem Gewissen liegen«, sagte Wilford. »Und das soll schlimmer sein als jede Strafe.«
    »So was kann einen um den Verstand bringen«, pflichtete Sam ihm bei.
    »Als wäre man in seiner eigenen Hölle, so stelle ich mir das vor. Das wäre wirklich eine Strafe, die sich gewaschen hat.«
    »Auf jeden Fall schlimmer als Sozialdienst.«
    »Schlimmer als das Gefängnis?«, fragte Harry.
    Sie machten ein skeptisches Gesicht. Sie sahen es vor sich, enge, schmale Zellen und Gitter, zusammengepfercht mit Hunderten anderer Männer, eine Stunde Hofgang am Tag. Für immer von Licht und Luft abgeschnitten.
    »Natürlich muss man erst mal ein Gewissen haben«, sagte Wilford.
    »Und wer hat das heute schon«, stimmte Sam ihm zu.
    Sie sahen Harry an und warteten auf seine Antwort. Doch der schien darüber nicht nachdenken zu wollen. Er stand mit steifen Gliedern auf, sammelte die Gläser ein und ging zur Theke. Ohne nach links oder rechts zu schauen, bahnte er sich den Weg durch die Jugendlichen, den Rücken durchgedrückt, wie ein Mann, der mit sich selbst genug zu schaffen hatte. Die anderen Gäste machten ihm automatisch Platz, und der Wirt schenkte ein, ohne dass Harry die Bestellung aussprechen musste.
    Mit Jackett und Schlips wirkte Harry seltsam fehl am Platz zwischen den T-Shirts und Shorts der anderen Gäste, wie ein Bestattungsunternehmer, den es auf eine Hochzeitsfeier verschlagen hatte. Wenn er den Kopf drehte, schien der Schirm seiner Mütze die Kulisse aus Freizeithemden und sonnenverbrannten Gesichtern zu durchschneiden.
    »Und der Kerl, der die Kleine umgebracht hat«, sagte Harry, als er an den Ecktisch zurückkam. »Meint ihr, der kommt auch ungeschoren davon?«
    »Kommt darauf an«, antwortete Wilford. »Kommt darauf an, ob die Bullen Glück haben. Vielleicht hat einer was gesehen und beschließt, es ihnen zu erzählen. Oder ein Bobby stellt aus Versehen die richtige Frage. Anders kriegen sie ihn nicht.«
    »Sie haben sicher einen Verdacht.«
    »Ein Verdacht allein genügt nicht. Ohne Beweise können sie überhaupt nichts machen«, sagte Wilford zuversichtlich.
    »Beweise. Aye, sie werden Beweise brauchen.«
    »Die haben sie nötig. Bitter nötig.«
    »Der junge Sherratt soll ausgebüchst sein«, sagte Sam.
    »So ein Trottel.«
    »Aber solange die Bullen nach ihm fahnden, haben sie wenigstens was zu tun. Er ist bestimmt der Hauptverdächtige.«
    »Außer, sie wollen es einem aus der Familie anhängen«, sagte Wilford. »Da vermuten sie den Täter immer zuerst.«
    »Aye«, sagte Sam. Plötzlich hellte sich seine Miene auf. »Oder sie verdächtigen ihren Freund.«
    »Aber welchen?«, sagte Harry.
    »Eben. Das ist genau die Frage, bei dem Früchtchen.«
    »Und gerade mal fünfzehn Jahre alt«, sagte Sam.
    Sie schüttelten ratlos den Kopf.
    »Aber das ist das einzig Gute daran, nicht wahr, Harry?«
    »Aye«, sagte Harry. »Das ist das Beste, dass bei den Nachforschungen alles Mögliche ans Licht kommen wird, auch über die Vernons. Dann weiß die Polizei endlich, mit was für einer feinen Familie sie es zu tun hat.«
    »Und dann …«
    »… dann sind sie vielleicht nicht mehr so versessen darauf, den Täter zu finden.«
    »Vielleicht verleihen sie ihm sogar einen Orden«, sagte Harry.
    Die Jugendlichen am anderen Ende des Raumes drehten sich erstaunt um und starrten herüber. Ausnahmsweise war das Gelächter der drei alten Männer noch lauter als ihr eigenes. Und noch unechter.
     
    Helen stand mit ihrer Großmutter im Hauseingang des Cottage und sah zu, wie die Rücklichter des Renault hinter der Kurve bei der Kirche verschwanden. Es war ein klarer, warmer Abend, und die Sterne leuchteten am tiefblauen Himmel. Nur im Umkreis der Straßenlaternen hier und da schien es wirklich dunkel zu sein.
    »Es war nett, Sergeant Coopers Sohn wieder zu sehen. Hat er sich nicht prächtig herausgemacht?«
    »Ja, Grandma.«
    »Ben heißt er, richtig?«
    »Ja.«
    »Er ist der, den du früher manchmal nach der Schule mit nach Hause gebracht hast, nicht wahr, Helen?«
    »Nur ein-, zweimal, Grandma. Und das ist schon Jahre her.«
    »Aber ich erinnere mich trotzdem noch daran.

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