Kuehler Grund
als eine Jungfrau, Chief Inspector. Fünfzehn Jahre alt? Sehr promiskuitiv, manche der jungen Leute heutzutage.«
»Man sollte meinen, in Zeiten von AIDS wären sie etwas vorsichtiger.«
»Diese hier braucht sich über das AIDS-Risiko jedenfalls keine Gedanken mehr zu machen.«
Die Gerichtsmedizinerin trug ein grünes T-Shirt und eine weite grüne Hose. Sie hatte die Schutzmaske um den Hals hängen und war einsatzbereit. Sie war noch immer attraktiv, obwohl sie die Haare im Nacken zusammengebunden hatte und ihr ungeschminktes Gesicht von den Lampen im Sektionssaal grell angestrahlt wurde. Tailby glaubte, dass es an ihrer Knochenstruktur lag – und an den nachdenklichen grauen Augen. Früher, als junger Beamter, hatte er heimlich von Juliana Van Doon geträumt. Aber mit der Zeit waren die Träume verblasst. Er hatte geheiratet, er war geschieden worden. Seine Gefühle für sie waren erloschen.
Tailby hätte den Sektionssaal am liebsten verlassen, bevor die Gerichtsmedizinerin den Körper öffnete und die Organe entnahm. Bevor sie mit der Edelstahlsäge das Brustbein durchsägte und mit der elektrischen Fräse die beschädigte Schädeldecke des Mädchens abtrennte. Es würde ohnehin nicht viel Neues dabei herauskommen, außer, dass Laura Vernon zum Zeitpunkt ihres Todes bei bester Gesundheit gewesen war.
»Der Bluterguss an ihrem Bein?«, sagte er.
»Ah. Interessant, ja. Bei einem Sexualmord nicht ganz selten. Sie fragen sich natürlich, warum es nur diesen einen Hinweis auf einen möglichen sexuellen Übergriff gibt. Wurde der Täter gestört? Ja, interessant.«
»Dann stammt der Bluterguss also nicht von einem Schlag. Wurde sie vielleicht am Bein festgehalten? Aber dann würde ich mindestens zwei getrennte Druckstellen erwarten.«
»Nein, nein, nein«, sagte Mrs. Van Doon. »Sie haben mich missverstanden. Wenn Sie genauer hinschauen, werden Sie kleine Abdrücke sehen, wo die Haut geschwollen ist. Diese Verletzungen sind nicht mit einem festen Griff zu erklären. Ich vermute, dass es sich um Bissspuren handelt, Chief Inspector.«
Tailby war plötzlich ganz Ohr. »Jemand hat sie gebissen«, sagte er. »Jemand hat ihr den Schädel zertrümmert und sie dann in den Oberschenkel gebissen.«
»Möglicherweise«, sagte die Gerichtsmedizinerin. »Interessant, oder?«
Der Beamte sah sich die Verletzung genau an. Für ihn schien es nicht mehr als eine Quetschung zu sein.
»Sind Sie sicher?«
»Nein. Ich müsste natürlich erst einen odontologischen Gutachter hinzuziehen. Ich habe mich bereits mit der Zahnklinik der Universität Sheffield in Verbindung gesetzt. Wir können Fotos und Abdrücke machen und die Umgebung des Bisses präparieren und konservieren. Den Abdruck kann man dann mit dem Zahnschema des Verdächtigen vergleichen. Den Verdächtigen müssen Sie allerdings selber beibringen.«
»Eine seltsame Stelle für einen Biss.«
»Ja. Normalerweise findet man sie eher auf den Brüsten und nicht auf dem Oberschenkel. Kürzlich habe ich in einer Fachzeitschrift einen Artikel von einem Zahnmediziner gelesen, der ein gerichtsmedizinisches Forschungsprojekt leitete. Dabei ging es ausschließlich um die Frage, durch welche Faktoren Bisse in die Brust beeinflusst werden, zum Beispiel durch Form und Größe der Brust, das Alter des Opfers oder die Schlaffheit der Brust.«
Tailby war fasziniert. »Wie um alles in der Welt hat er das denn gemacht?«
»Er hat ein künstliches Gebiss anfertigen lassen und zwanzig weibliche Versuchspersonen angeheuert – weiß Gott, wo er die gefunden hat.«
»Wahrscheinlich Studentinnen.« Tailby war beeindruckt, auch wenn es ihm widerstrebte.
»Aber ich bin mir sicher, dass bei Sittlichkeitsverbrechen auch Bisse in den Oberschenkel vorkommen. Nachdem wir keine Proben für eine DNS-Analyse haben, hätte Ihnen etwas Besseres gar nicht passieren können, Chief Inspector.«
Tailby starrte die Gerichtsmedizinerin an. »Also gut, wollen wir mal sehen. Der Täter schlägt ihr zwei-, dreimal auf den Kopf. Als sie am Boden liegt, zieht er ihr die Jeans und die Unterhose herunter und beißt sie einmal in den Oberschenkel.« Es klang nicht vollkommen überzeugend, aber er wusste, dass es noch weit bizarrere und makaberere Fälle gab, weit perversere Mörder, die ihre toten Opfer weitaus schlimmer zurichteten.
»Wollen wir ein bisschen spekulieren, Chief Inspector?«, sagte Mrs. Van Doon. »Dann hätte ich noch einen anderen möglichen Tatablauf anzubieten. Ein freiwilliger
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