Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kuehler Grund

Titel: Kuehler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Booth
Vom Netzwerk:
kannte sie kaum.«
    »Aber Sie sind doch gewiss eine gute Beobachterin. Was machen Sie beruflich?«
    »Ich bin Lehrerin.«
    »Natürlich. Sie sind es also gewöhnt, Kinder zu beurteilen. Wie haben Sie Laura Vernon eingeschätzt?«
    Helen sah zu Boden und wich dem kalten Blick der Beamtin aus. »Ich fand sie wohl ziemlich frühreif. Ein bisschen frech, ein bisschen unverschämt. Um nicht zu sagen arrogant.«
    »Arrogant?«
    »Sie schien mir ein Mädchen zu sein, das so oft gehört hat, wie klug und attraktiv es ist, dass sie es am Ende selbst geglaubt hat und erwartete, von jedermann dementsprechend behandelt zu werden. Die Sorte kenne ich aus der Schule. Sie können eine ziemliche Unruhe in die Klasse bringen.«
    »Danke. Sie haben uns sehr geholfen.«
    Cooper hatte Helen nicht aus den Augen gelassen, während sie Frys Fragen beantwortete. Sie konnte nur hoffen, dass er nicht merkte, wie sehr sie die barsche, unfreundliche Art seiner Kollegin verunsichert hatte.
    »Fertig?«, fragte er Fry.
    »Von mir aus können wir.«
    »Vielleicht sehe ich demnächst selbst einmal nach deinen Großeltern«, sagte er zu Helen.
    »Grandma würde sich freuen«, antwortete sie. »Ich glaube, sie mag dich. Du würdest sie auf andere Gedanken bringen. Sie erinnert sich nämlich noch von früher her an dich.«
    Fry wurde ungeduldig. »Wir haben noch einige Häuser auf der Liste, Ben. Wir sollten zusehen, dass wir weiterkommen.«
    »Schon gut.«
    »Und deine Familie, Ben?«, fragte Helen, als er sich zum Gehen wandte. »Wie steht es bei dir zu Hause?«
    Aber offenbar hatte Ben Cooper die Frage nicht mehr gehört, denn er ging, ohne zu antworten, zu seinem Auto. Er blickte sich auch nicht mehr um, sondern machte nur noch eine kleine Handbewegung, ein fast entschuldigendes Winken. Nur Diane Fry, die ihm folgte, drehte sich noch einmal zu Helen um.
     
    Julia Van Doon blickte auf die nackte Tote hinunter und beantwortete die Frage mit einem Kopfschütteln.
    »Keine Vergewaltigung. Keine Abschürfungen im Genitalbereich, keine Spuren von Sperma oder sonstigen Körperflüssigkeiten. Tut mir Leid, Chief Inspector.«
    »Kein Geschlechtsverkehr, ob erzwungen oder freiwillig?«, fragte Tailby. Wenn in seiner Stimme Enttäuschung mitschwang, konnte er es nicht ändern. Die Gerichtsmedizinerin war erfahren genug, um zu wissen, dass ihm solche Spuren die Arbeit erheblich erleichtert hätten.
    Nachdem das Opfer entkleidet worden war, war es fotografiert worden, um äußerliche Spuren festzuhalten. Die Kleidung selbst würde später kriminaltechnisch untersucht werden. Nun bereitete sich Mrs. Van Doon auf die Durchführung der eigentlichen Autopsie vor, auf die sorgsame Untersuchung der Leiche, um auch noch die kleinsten Hinweise aufzuspüren.
    Stewart Tailby hatte im Laufe der Zeit an zu vielen Leichenöffnungen teilgenommen. In den ersten zehn, zwölf Jahren endeten sie jedes Mal mit einer Blamage. Sein Magen revoltierte, wenn er die freigelegten Därme roch und das nasse Schmatzen hörte, mit dem die Organe entnommen wurden. Seine Neigung, mit kreidebleichem Gesicht aus dem Raum zu stürzen, weil er sich übergeben musste, hatte bei seiner ersten Anstellung als Kriminalbeamter für große Heiterkeit gesorgt. Obwohl auch er inzwischen gelernt hatte, seine Gefühle zu kaschieren und den Würgereiz zu unterdrücken, hatte er sich im Grunde nie damit abfinden können, dass es notwendig war, das Opfer eines Gewaltverbrechens auch noch auf solch grauenvolle Weise zu entwürdigen. Dass diese Gräuel im Namen der Gerichtsmedizin und damit im Namen der Gerechtigkeit begangen wurden, machte es auch nicht besser.
    Manche Beamten ertrugen die Autopsie am besten mit schwarzem Humor. Das war nicht Tailbys Stil. Er zog sich hinter eine Fassade aus Schweigen zurück und äußerte sich nur im Notfall, allerdings höchstens in leicht abrufbarem Fachjargon und bedeutungslosen Phrasen. Er war zwar körperlich anwesend, aber seine Gefühle blieben von dem, was um ihn herum vorging, völlig abgekoppelt. Tailby wusste, dass er bei seinen Kollegen und Untergebenen als kalt und streng galt; manche hielten ihn sogar für einen aufgeblasenen Wichtigtuer. Aber das nahm er gern in Kauf, solange es ihm nur gelang, sich jene Dinge vom Leib zu halten, die ihm zu sehr zu schaffen machten.
    »Das soll nicht heißen, dass das Opfer sexuell unerfahren war«, sagte Mrs. Van Doon. »Ganz im Gegenteil, ganz im Gegenteil.«
    »Nein?«
    »Ich würde sagen, die junge Dame war alles andere

Weitere Kostenlose Bücher