Kuehler Grund
Hügelkette. Charlotte sah ihm verzweifelt nach, als ob sie sich nicht genug bemüht hätte, die Botschaft zu entziffern. Von der Terrasse aus war keines der Häuser, die zum Dorf gehörten, zu erkennen. Man sah nur ein paar Farmen, hoch oben auf der gegenüberliegenden Bergflanke, deren verwitterte Wände mit dem übrigen Gestein verschmolzen. Kein Wunder, dass Charlotte den Hubschrauber nur ungern aus den Augen verlor. Er war das einzige Zeichen von Leben, das sie vom Mount aus sehen konnte.
»Man hört so oft, dass ein Mädchen von zu Hause wegläuft und für immer verschwindet«, sagte sie. »Nach London zum Beispiel. Könnte sie in London sein, Graham? Und wie sollte sie dort hingekommen sein?«
»Sie ist doch erst fünfzehn«, sagte er. »Man würde sie wieder zurückbringen.«
»Wie soll sie hingekommen sein?«, wiederholte sie. »Woher hätte sie das Geld gehabt? Sie könnte natürlich per Anhalter gefahren sein. Weiß sie überhaupt, wie man trampt? Warum hat sie nichts zum Anziehen mitgenommen?«
Seit zwei Tagen stellte sie nun schon zu viele Fragen, die Graham nicht beantworten konnte. Er hätte ihr gern gesagt, dass Laura höchstens bis Bakewell gekommen sein konnte und dass die Polizei sie spätestens diese Nacht aufgreifen würde. Er hatte versucht, es ihr zu sagen, aber er hatte es nicht über die Lippen gebracht.
»Willst du nicht reinkommen? Du musst etwas essen.«
»Noch nicht«, sagte sie.
»Es wird schon dunkel. Du solltest dir wenigstens etwas überziehen.«
»Ich bleibe hier draußen«, sagte sie.
»Charlie …«
»So lange sie noch nach ihr suchen«, sagte sie. »So lange möchte ich hier draußen bleiben.«
Ein kaum angelesenes Buch lag aufgeklappt auf dem Tisch. Graham sah am Einband, dass es der neueste Krimi aus einer Bestsellerserie über eine amerikanische Gerichtsmedizinerin war, die eine Leiche nach der anderen sezierte und scharenweise Serienkiller fing. Auf dem Umschlag war der kaum identifizierbare Teil eines nackten Körpers vor einem dunklen Hintergrund zu sehen.
»Ich weiß wirklich nicht, wo wir sie noch suchen könnten«, sagte Charlotte. »Obwohl ich mir so das Hirn zermartere. Aber wir haben sie doch schon überall gesucht. Fällt dir nicht noch etwas ein, Graham?«
»Wir haben es überall probiert«, sagte Graham.
»Was ist mit dem Mädchen aus Marple?«
»Da haben wir auch schon nachgefragt. Ihre Eltern sagen, dass sie den Sommer über in Frankreich ist.«
»Ach ja, das hatte ich vergessen.«
»Wenn sie in schlechte Gesellschaft geraten ist …«
»Wie denn?«, sagte Charlotte schnell. »Wir haben doch immer so gut auf sie aufgepasst. Wie sollte sie da in schlechte Gesellschaft geraten?«
»So etwas kommt vor, da dürfen wir uns nichts vormachen. Auch wenn … Auch wenn ihre Freunde aus den besten Familien stammen, können sie auf die schiefe Bahn geraten sein.«
»Möglich wäre es.«
»Und dann gibt es diese Rave-Partys. Ich habe gehört, dass sie manchmal das ganze Wochenende dauern.«
Charlotte schauderte. »Meinst du, sie nimmt Drogen?«
»Wenn sie wieder da ist, müssen wir jedenfalls ernsthaft mit ihr reden.«
Nachdem der Hubschrauber abgedreht hatte, trug die Abendbrise leise Stimmen und Rufe zum Haus herauf. Wegen des dichten Baumbestandes konnten Graham und Charlotte niemanden sehen, doch sie wussten beide, dass es die Männer waren, die am Berg nach ihrer Tochter suchten.
»Wahrscheinlich kennen wir nicht alle ihre Freunde«, sagte Graham. »Darüber brauchen wir uns keine Illusionen zu machen. Und manchmal hat sie sich bestimmt auch an Orten herumgetrieben, von denen wir nichts wissen sollten.«
Charlotte schüttelte den Kopf. »Laura hatte keine Geheimnisse vor mir«, entgegnete sie. »Vor dir natürlich schon. Aber nicht vor mir.«
»Wenn du meinst, Charlotte.«
Charlotte kräuselte irritiert die Stirn, weil er ihre Kritik so widerspruchslos hinnahm. »Weißt du vielleicht mehr als ich, Graham? Weißt du etwas, was du mir nicht sagen willst?«
»Natürlich nicht.«
Er dachte an sein letztes Gespräch mit Laura. Es war am späten Donnerstagabend gewesen, als sie in sein Arbeitszimmer geschlüpft war und ihn überredet hatte, ihr ein Glas Whisky einzuschenken. Sie war aufgeregt gewesen, hatte sich auf die Schreibtischkante gesetzt, seinen Arm gestreichelt und ihn mit dem verführerischen Lächeln angesehen, das, wie sie sehr wohl wusste, auf alle männlichen Besucher des Hauses eine unwiderstehliche Wirkung hatte. Sie hatte sich
Weitere Kostenlose Bücher