Kuehler Grund
Gegenteil. Es hat mich eher noch bestärkt.«
»Bestärkt? Dann wollen Sie Karriere machen?«
»Ja. Bei uns wird auch bald die Stelle eines Sergeants frei«, sagte er. »Eigentlich müsste ich die Beförderung kriegen.«
»Na dann, viel Glück«, sagte Fry. »Sie haben sicher gute Chancen.«
»Ach, ich weiß nicht«, sagte er zweifelnd. »Früher dachte ich das auch, aber jetzt …«
»Natürlich haben Sie Chancen.« Sie starrte ihn zornig an. Es ärgerte sie, dass er plötzlich die Schultern hängen ließ. Über seinen Vater hatte er noch mit Wut und Leidenschaft geredet, doch jetzt, nur Sekunden später, kam er ihr wie ein Verlierer vor.
»Meinen Sie?«
»Man scheint sehr viel von Ihnen zu halten. Bei der Polizei kennt Sie jeder. Und in der Bevölkerung natürlich auch.«
»Ach ja, die Bevölkerung«, sagte er abschätzig.
»Wenn die bestimmen dürfte, wären Sie schon Bürgermeister.«
»Wirklich? Na, wir wissen ja alle, wie viel Verlass auf die ist.«
Aber Fry hatte ihre Entschuldigung hinter sich gebracht, und allmählich ging ihr sein Trübsinn auf die Nerven. Er ließ den Ball noch einmal aufticken und schlug einen langsamen Lob, der wieder zurückkam.
»Ich stelle es mir richtig schön vor, so viele Freunde zu haben«, sagte sie. »Und dazu noch eine Familie, auf die man zählen kann.«
Er nahm die Augen vom Ball, verwirrt über ihren veränderten Tonfall.
»Sie werden wahrscheinlich nie von hier fortziehen, nicht wahr, Ben? Sie werden heiraten, eine alte Schulfreundin vielleicht, sie werden sich hier niederlassen, ein Häuschen kaufen, Kinder haben, sich einen Hund zulegen, wie es sich gehört.«
»Schon möglich«, sagte er. »Klingt gut.«
»Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen«, sagte sie und schmetterte den Ball in die Deckenbeleuchtung.
Charlotte Vernon hatte Daniel in Lauras Zimmer gefunden. Auf der Kommode lag ein Stapel Briefe, sorgsam mit einer rosafarbenen Schleife verschnürt. Charlotte hatte die Briefe schon früher gesehen, sie aber nicht angerührt. Noch konnte sie nichts anfassen, was Laura gehört hatte. Es war, als würde sie damit endgültig anerkennen, dass sie für immer fort war.
»Ich hatte ihr geschrieben, dass ich letztes Wochenende kommen wollte«, sagte Daniel. »Sie wollte mit mir reden.«
»Worüber?«
»Ich weiß nicht. Es klang ernst. Ich habe ihr versprochen, über das Wochenende nach Hause zu kommen. Aber ich habe es nicht gemacht. Ich bin nicht gekommen.«
»Du hast ihr viel öfter geschrieben als uns, Danny.«
»Euch? Ihr hattet doch immer genug mit euren eigenen Angelegenheiten zu tun. Aber Laura brauchte den Kontakt zur Außenwelt. Sie hat sich hier wie eine Gefangene gefühlt.«
»Unsinn.«
»Tatsächlich?«
Daniel drehte einen Brief um und ließ den Blick über seine eigene Handschrift gleiten. Seine Mutter ging zum Fenster, nestelte an der Gardine herum und sah hinunter in den Garten. Sie kniff die Augen zusammen, geblendet von der Sonne, die vom Gartenhaus reflektiert wurde. Dann stellte sie einen Porzellanteddy, den die Polizei von der Fensterbank genommen hatte, wieder auf seinen Platz zurück. Es war ein Royal Crown Derby Briefbeschwerer mit einem kunstvollen Imari-Design, den Graham seiner Tochter von einer Geschäftsreise mitgebracht hatte. Charlotte wandte sich wieder ihrem Sohn zu und sah ihn an, doch er war so in die Briefe versunken, dass sie schließlich ungeduldig wurde.
»Wonach genau suchst du, Danny? Nach Beweisen für deine eigene Schuld?«
Daniel wurde rot. »Bei euch brauche ich jedenfalls nicht lange zu suchen. Bei dir und Dad. Ihr habt ja nie ein Geheimnis daraus gemacht.«
»Rede nicht so.«
Charlotte war enttäuscht gewesen, dass ihr Sohn es nicht für nötig befunden hatte, zwischen seiner Urlaubsreise mit Freunden nach Cornwall und der verfrühten Rückkehr an die Universität nach Hause zu kommen, und sei es auch nur für ein, zwei Tage. Sie wusste nicht, aus welchem Grund er weggeblieben war. Sie rümpfte die Nase über Daniels verdreckte Jeans, die zerschrammten Schuhe und seinen starken Körpergeruch. Er sah müde aus, tiefe Furchen und Bartstoppeln in seinem runden Gesicht. Er erinnerte sie stark an seinen Vater, wie er vor neunzehn Jahren gewesen war, bevor ihm der Erfolg und das Geld einen Anstrich von Kultiviertheit verliehen hatten. Auch Graham war ein Mensch gewesen, der seine Leidenschaften schwer unter Kontrolle halten konnte.
»Da fehlt einer«, sagte Daniel plötzlich.
»Wie bitte?«
»Ein
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