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Kuehler Grund

Titel: Kuehler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Booth
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eigenen Urgroßeltern gekannt hatten. Man war weitläufig verwandt und verschwägert. Man kannte sich.
    »Ich bin ihnen nie vorgestellt worden«, sagte Gwen. »Hier bei uns kannte sie keiner. Jedenfalls nicht richtig.« Sie sah ihn bang an, um sich zu vergewissern, dass er sie auch verstanden hatte.
    »Natürlich.«
    Ja, man kannte einen anderen Menschen nur dann richtig, wenn man alles über ihn wusste, angefangen beim Augenblick seiner Zeugung im hohen Gras hinter dem Gemeindesaal über sein erstes Wort bis hin zu seinen Zeugnisnoten im fünften Schuljahr. Man musste wissen, welche Schuhgröße er hatte, wie viel er dem Kreditkartenunternehmen schuldete, wann er zuletzt Windpocken gehabt hatte und an welchem Zeh ihm ein Nagel eingewachsen war. Man musste wissen, mit wem er seine ersten sexuellen Erfahrungen gemacht, welches Kondom er dabei benutzt hatte und ob es ein befriedigendes Erlebnis gewesen war. Nur wen man so kannte, kannte man richtig.
    »Aber ich kannte sie vom Sehen«, gab Gwen zu. »Die Mount-Familie.«
    »Und Laura? Können Sie etwas über sie sagen?«
    »Sie ist nie in die Dorfschule gegangen – als sie hergezogen sind, war sie schon zu alt dafür. Sie war auch nicht auf der großen Schule in Edendale. Es musste diese Privatschule sein. Drüben in Wardworth. Wie heißt sie noch gleich?«
    »High Carrs.«
    »Richtig. Sie haben sie morgens mit dem Auto hingefahren und nachmittags wieder abgeholt. Am Wochenende waren sie immer unterwegs, zum Einkaufen in Sheffield und so. Die Kleine hatte Reitstunden und ich weiß nicht was. Mit den anderen Mädchen aus dem Dorf hat sie sich nie abgegeben und mit den Jungen auch nicht, obwohl die bestimmt nichts dagegen gehabt hätten. Ihre Eltern haben sie da oben in der Villa eingesperrt oder sie auf jeden Fall nicht ins Dorf gelassen. Deshalb hat sie auch nie richtig dazugehört. Genauso wenig wie ihr Bruder. Das wäre gar nicht möglich gewesen.«
    »Und wie gut hat Ihr Mann Laura gekannt?«
    Gwen fuhr zornig hoch. Sie sah fast grimmig aus. Cooper biss so hastig in sein Plätzchen, dass er sich beinahe verschluckt hätte.
    »Hören Sie mir überhaupt zu?«
    »Aber sicher.«
    »Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass er mir nichts erzählt? Woher soll ich dann wissen, ob er sie gekannt hat? Sie ist nie hier bei uns im Cottage gewesen. Woher sollte ich es also wissen?«
    »Es tut mir Leid.« Er meinte es ernst. »Das muss ich ihn natürlich selbst fragen.«
    »Glauben Sie etwa, er erzählt Ihnen was?«
    »Es ist in seinem eigenen Interesse. Es nützt ihm gar nichts, wenn er auf stur schaltet.«
    »Dann versuchen Sie mal, ihm das begreiflich zu machen. Ich kann Ihnen nur viel Glück dabei wünschen.«
    Genauso schnell wie Gwen aufgebraust war, hatte sie sich auch wieder beruhigt. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und sah Cooper verschämt an, als ob ihr der Wutausbruch peinlich wäre.
    »Er soll eine kleine Meinungsverschiedenheit mit meinen Vorgesetzten gehabt haben«, sagte Cooper fragend. Seit er von dem Vorfall erfahren hatte, ließ er ihn nicht mehr los.
    »Und er kam sich noch mächtig klug dabei vor«, sagte Gwen. Sie seufzte und stellte ihre halb leere Tasse ab. »Er war schon immer ein Querkopf. Widerborstig, seit ich ihn kenne. Als junges Mädchen hat mir das besonders gut an ihm gefallen. Ich dachte, es wäre männlicher Stolz. Aber heute … Na, wie schon gesagt, er ist ein Querkopf. Ein richtiger Dickschädel ist Harry Dickinson. Das wissen alle.«
    Cooper hatte den Eindruck, dass die alte Frau für Harrys Sturheit noch immer eine besondere Schwäche hatte. Nachdem die körperliche Anziehung geschwunden war und sich romantische Verliebtheit in Vertrautheit verwandelt hatte, ließ der Gedanke an diese Eigenart ihres Mannes noch immer ihren Ton sanfter werden und zauberte einen versonnenen Ausdruck in ihre hellen Augen, als ob sie durch die Wände hindurch in die Schatten einer glücklicheren Vergangenheit blickte. Vielleicht war ihre Ehe nicht glücklich, aber dafür besaßen sie statt Glück etwas anderes, nämlich Stabilität und Ausgeglichenheit. Die alten Eheleute waren wie zwei uralte Steine, die auf der Raven’s Side aneinander lehnten – schartig und verwittert, sich aneinander reibend, aber im Laufe der Zeit auch immer perfekter aneinander angepasst. Wenn einer dieser Felsen zerfiel, gab es für den anderen keinen Halt mehr.
    »Heutzutage hält er mehr von seinen Freunden als von mir«, sagte Gwen. »Sam Beeley und Wilford Cutts.«
    »Das kann

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