Kuehles Grab
»O ja. Die Eltern Ihrer Mutter brachen zu einem Spaziergang mit Ihnen auf und kamen nie wieder heim. Ein uniformierter Polizist fand sie nebeneinander auf einer Bank sitzend. Beide mit einem Schuss ins Herz. Erschossen mit einer kleinkalibrigern Pistole. Sie, Annabelle, tapsten ganz allein auf unsicheren Beinchen im Park herum und hatten einen neuen Teddybär im Arm. An seinem Hals hing ein Geschenketikett mit der Aufschrift: ›In Liebe, Onkel Tommy.‹
Die Polizei fasste Tommy sofort und verhörte ihn. Er stritt jede Beteiligung an den Morden ab. Laut seiner Aussage hielt er am Park, gab Ihnen das Stofftier und plauderte kurz mit Ihren Großeltern. Und als er ging, sei alles in bester Ordnung gewesen. Die Polizei durchsuchte sein Apartment – ohne Erfolg. Ohne Tatwaffe, ohne Augenzeugen, ohne eindeutige Spuren hatte die Polizei keinerlei Handhabe. Sie schlugen Ihrem Vater vor, eine einstweilige Verfügung zu erwirken. Er sagte, seine Mutter habe das seinerzeit auch versucht, trotzdem habe sein Vater sie umgebracht.
An diesem Nachmittag ging Russell in Gregs Büro und eröffnete ihm, dass er eine Entscheidung getroffen habe. Er und seine Familie würden aus Philadelphia verschwinden – das sei die einzige Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen.
Wieder versuchte Greg, ihn umzustimmen. Was wussten Leslie und Russell schon von einem Leben auf der Flucht? Wie sollten sie an neue Identitäten, gefälschte Papiere, neue Jobs kommen? So etwas lief in der Realität nicht ab wie im Film.
Russell blieb jedoch eisern. Wenn er seinen Bruder anschaute, sah er seinen Vater. Er hatte bereits zu viel durch den unkontrollierten Zorn eines Mannes verloren und würde keine weiteren Verluste riskieren. Und je länger er redete, umso einsichtiger wurde Gregory. Es war Gregorys Idee, dass Leslie und Russell in sein Haus in Arlington ziehen sollten. Dort lief alles auf den Namen Badington, und Tommy würde es schwer haben, seinen Bruder in dem neuen Heim in Massachusetts aufzuspüren.
Gregory rief mich an und legte mir Russells Situation dar. Zufällig hatten wir in der Fakultät eine Stelle frei. Wir besprachen alle Details. Russell und Ihre Mutter zogen nach Arlington, ich bot Ihrem Vater einen Job im MIT an. Selbstverständlich musste ich ihn unter seinem echten Namen Roger Grayson auf der Gehaltsliste führen, aber den Rest regelte ich mit den richtigen Leuten, und aus Ihrem Vater wurde Russell Granger, verheiratet mit Leslie Ann Granger und Vater der entzückenden kleinen Annabelle Granger. Nur die Gehaltsschecks und andere Finanzunterlagen verrieten etwas anderes. Wir hielten uns damals für sehr schlau, aber wir waren offenbar nicht schlau genug.«
»Tommy fand die Grangers«, sagte Bobby ausdruckslos.
»Zumindest war Russell davon überzeugt. Wenige Jahre nach dem Umzug nach Arlington wurde in den Medien ausführlich von einem Entführungsfall berichtet. Das Opfer, ein junges Mädchen, hätte Ihre ältere Schwester sein können, Annabelle. Russell wurde augenblicklich nervös. Er hatte Angst, dass Tommy in der Nähe sein und nach Annabelle suchen könnte.«
»Catherines Fall«, ergänzte Bobby. »Der Täter war ein anderer – Richard Umbrio. Aber die verblüffende Ähnlichkeit zwischen Catherine und Annabelle musste Russell eine Höllenangst einjagen. Sicherlich befürchtete er das Schlimmste.« Er warf einen Blick auf Annabelle. »Das hat deinen Vater sogar dazu getrieben, sich als FBI-Agent auszugeben, zu Catherine ins Krankenhaus zu gehen und ihr Fragen zu stellen.«
»Der Mann auf der Zeichnung ist Tommy«, murmelte Annabelle. »Mein Vater hat Tommy gezeichnet, um zu sehen, wie Catherine reagiert.«
»Wahrscheinlich.«
Annabelle brachte ein klägliches Lächeln zustande. »Ich habe doch gesagt, dass es eine plausible Erklärung gibt.« Doch nach wie vor war ihr Gesicht aschfahl.
»Umbrio«, brummte Schuepp. »Ja, das stimmt. Die Polizei hat diesen brutalen Typen irgendwann festgenommen und ihm das Verbrechen zur Last gelegt. Jetzt erinnere ich mich wieder. Dennoch weigerte sich Russell, seine Vorsicht fallenzulassen. Er besuchte Karatekurse und las alles, was es über Stalker zu lesen gab. Ich kann mir nicht vorstellen, was er durchgemacht hat – erst verliert er seine Eltern als Kind, dann muss er davon ausgehen, dass sich eine ähnliche Tragödie in seiner kleinen Familie wiederholen würde.
Ich weiß, dass ihn Schuldgefühle plagten, weil er Ihrer Mutter das alles zumutete. Ein paar Mal habe ich die
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