Kuehles Grab
wahren Namen ihrer Mutter zum ersten Mal in ihrem Leben gehört hatte.
»… war so verängstigt, dass sie abends kein Licht mehr in der Wohnung machte und den Ton des Fernsehers ganz leise stellte, damit Tommy glauben musste, es sei niemand daheim«, sagte Schuepp. »Doch Tommy ließ nicht locker. Kaum kam sie von ihrer Schicht im Krankenhaus nach Hause, tauchte Tommy auch schon auf. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass er ihr nachschlich. Russell stellte seinen Bruder zur Rede und machte ihm klar, dass dieser Unsinn aufhören müsse. Dass Tommy in seinem Haus nicht mehr willkommen wäre und Russel die Polizei rufen würde, falls er sich noch einmal blicken ließe.
Kurz danach fanden Russell und Leslie immer wieder tote Tiere vor ihrer Wohnungstür. Gehäutete Katzen. Geköpfte Eichhörnchen und so weiter. Russell war überzeugt, dass Tommy dafür verantwortlich war. Er ging zur Polizei. Doch ohne stichhaltigen Beweis konnten sie nichts unternehmen. Russell installierte eine Alarmanlage, sicherte seine Tür mit zusätzlichen Ketten und Schlössern und ließ sogar eine extrahelle Lampe über der Haustür anbringen. Leslie erklärte sich einverstanden, nie mehr ohne Begleitung nach Hause zu gehen. Russell holte sie jeden Tag von der Klinik ab.
Gregory erinnerte sich, dass er Russell eines Nachts in seinem Büro vorfand – sein Blick ging ins Leere. Als Gregory vorsichtig an den Türrahmen klopfte, sagte Russell tonlos: ›Er wird sie töten. Mein Vater hat meine Mutter ermordet. Tommy wird meine Frau umbringen.‹ Gregory wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
Das Leben ging weiter, und Leslie brachte ihr Kind auf die Welt. Tommy war in der Versenkung verschwunden; Russell hatte keine Ahnung, wo sich sein Bruder herumtrieb, und es war ihm auch gleichgültig. Er und Ihre Mutter kamen zur Ruhe und genossen sozusagen die Flitterwochen, die sie vorher nicht gehabt hatten. Bis …«
»… Tommy zurückkam«, ergänzte Annabelle.
»Sie waren damals achtzehn Monate alt«, führte Schuepp aus. »Später erfuhr Russell, dass Tommy sie nur aus einem Grund all die Monate in Ruhe gelassen hatte – er war wegen Körperverletzung zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Gleich nach seiner Entlassung machte er dort weiter, wo er aufgehört hatte. Allerdings hatte er es jetzt nicht mehr auf Leslie abgesehen. Er wollte Sie, Annabelle.
Beim ersten Mal sprach er Russell und Leslie auf der Straße an. Sie waren mit Ihnen im Kinderwagen auf dem Heimweg vom Park. ›Wie geht's euch. Schön, euch zu sehen. Ist das meine neue Nichte? Oh, sie ist wunderschön.‹ Er packte Sie, hob Sie aus dem Wagen, ehe Russell reagieren konnte, und liebkoste Sie. Russell versuchte, Sie ihm abzunehmen. Tommy wandte sich ab. Russell sagte, er hätte ein eigenartiges Funkeln in seinen Augen gesehen. Russell hatte richtig Angst, weil er nicht wusste, ob Tommy Sie küssen oder auf die Straße schleudern würde.
Natürlich tat Russell seinem Bruder schön. Auch Leslie war freundlich, bis sie Sie endlich wiederhatten und in den Wagen legen konnten. Dann gingen sie weiter – beide waren mit den Nerven am Ende.
Am nächsten Tag wechselte Russell die Türschlösser aus und ließ auf seine Kosten ein neues Sicherheitssystem im ganzen Gebäude installieren. Und er wandte sich erneut an die Polizei. Die Detectives überprüften Tommys Hintergrund und erfuhren von seinen Vorstrafen. Dennoch konnten sie nichts tun. Ein Besuch bei der Nichte war kein Verbrechen. Sie hatten jedoch Verständnis für Russells Besorgnis und verfassten einen Bericht.
Russell hatte, als er die Polizeistation verließ, mehr Angst als bei seiner Ankunft. Er redete mit Greg und bat ihn um unbezahlten Urlaub. Er wollte Leslie und das Baby nicht alleinlassen – nicht einmal für eine Stunde. Greg redete ihm das aus. Russell hatte gerade erst seinen Doktortitel bekommen. Eine Beurlaubung hätte sich verheerend auf seine Karriere ausgewirkt. Und da Ihre Mutter nicht mehr arbeitete, musste jemand in der Familie das Geld verdienen. Russell ging weiterhin zur Arbeit, während Leslie Vorbereitungen für einen Besuch bei ihren Eltern traf. Sie dachte, sie und ihr Kind seien sicherer, wenn Leute um sie herum waren.«
»O nein«, flüsterte Annabelle und schlug die Hand vor den Mund. Bobby folgte ihrem Gedankengang. Die Großeltern waren angeblich bei einem Unfall ums Leben gekommen. Er ahnte, dass die Wahrheit erschütternder sein würde als ein Auffahrunfall.
Schuepp nickte bekümmert.
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