Kuehles Grab
beiden bei gesellschaftlichen Anlässen beobachtet. Ihr Vater behandelte Ihre Mutter fast übertrieben zuvorkommend und bemühte sich immer, sie bei Laune zu halten und selbst fröhlich zu sein. Fast so, als glaubte er, dass alles gut würde, wenn er nur laut genug lachte. Ihre Mutter hat Sie abgöttisch geliebt, Annabelle«, sagte Schuepp leise. »Sie zögerte keinen Augenblick, als die Zeit gekommen war.
Russell kam Ende Oktober in mein Büro. Tommy war wieder aufgetaucht, legte Geschenke für Sie, Annabelle, vor die Haustür und beobachtete Sie heimlich. Russell behauptete steif und fest, das sei allein seine Schuld. Er habe nicht gründlich genug seine Spuren verwischt. Die Bankkonten und Steuerunterlagen hätten ihn verraten. Es sei nur eine Frage der Zeit gewesen.
Dieses Mal besorgte Russell wirklich falsche Papiere für sich und seine Familie, verkaufte das alte Auto und bezahlte ein anderes mit Bargeld. Alles andere ließ er zurück. Er wolle beweglich bleiben und mit leichtem Gepäck reisen, sagte er. Nicht einmal mir wollte er verraten, wohin er gehen würde.
Ich weiß noch, dass ich mich beim Abschied fragte, ob er es schaffen oder ob ich das Ende der Geschichte eines Tages in den Nachrichten sehen würde. Zwei Wochen blieb alles ruhig. Dann verschwand dieses kleine Mädchen, Ihre Freundin. Sobald ich hörte, in welcher Straße sie gewohnt hatte, wusste ich, wer der Entführer war. Ihr Vater hat immer gesagt, dass Tommy Enttäuschungen nicht gut wegstecken könne.«
»Wusste mein Vater davon?«, fragte Annabelle eindringlich. »Von Dori, meine ich.«
»Er rief mich drei Tage später an«, berichtete Schuepp. »Er hatte es aus den Nachrichten erfahren und wusste nicht, was er tun sollte. Einerseits war er überzeugt, dass Tommy der Täter war. Andererseits, wenn er zurückgekommen wäre, um mit der Polizei zu sprechen …«
»… hätte Tommy wieder in Erfahrung bringen können, wo er sich aufhält«, vollendete Bobby den Satz. »Und was ist mit Ihnen, Sir? Haben Sie sich mit der Polizei in Verbindung gesetzt?«
»Ich habe die Hotline angerufen und einen anonymen Hinweis gegeben. Damit beruhigte ich mein Gewissen, trotzdem …«
»Es genügte nicht, um Dori Petracelli zu helfen.« Bobby bedachte den alten Herrn mit einem unfreundlichen Blick. »Sie waren im Besitz von wichtigen Informationen. Wenn Sie sich gemeldet hätten …«
»Die Polizei hätte Russell und Leslie ausfindig gemacht, die Familie zurück nach Massachusetts gezerrt und Tommy sozusagen zum Fraß vorgesetzt. Das Petracelli-Mädchen war vermutlich tot. Ich dachte an das Leben, das ich retten konnte – an Ihr Leben, Annabelle.«
Bobby öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber Annabelle kam ihm zuvor: »Erklären Sie das Mr. und Mrs. Petracelli! Sie sind auch Eltern. Sie hätten etwas Besseres verdient – man hätte ihre Tochter nicht einfach abschreiben dürfen, nur damit die früheren Nachbarn in Ruhe weiterleben können.« Sie wandte sich verbittert ab.
Schuepp schenkte einen Schluck Scotch in ein neues Glas und schob es ihr hin.
Sie nahm es nicht. Stattdessen riss sie sich zusammen und setzte die resolute Miene auf, die Bobby mittlerweile an ihr kannte.
»Eine letzte Frage, Mr. Schuepp: Können Sie mir meinen echten Namen nennen?«
33
Mein Name lautet Amy Marie Grayson.
Ich saß auf dem Beifahrersitz neben Bobby, hielt die Asche meiner Eltern in den Händen und probierte meinen richtigen Namen immer wieder aus, wartete, bis er mir ganz ohne Schwierigkeiten über die Zunge rollte. Wir waren auf der Route 2, fuhren irgendwohin. Für mich spielte es kaum eine Rolle, wo wir landen würden.
Ich war ziemlich durcheinander. Ich legte den Kopf an die kühle Fensterscheibe, und in diesem Moment hatte ich meinen Vater vor Augen, wie er mir an meinem einundzwanzigsten Geburtstag bei Giacomo's gegenübersaß und mich zufrieden betrachtete.
Mein Vater hatte gewonnen. Ich konnte nie verstehen, warum er mich nicht an seinem Krieg hatte teilnehmen lassen. Aber dieser Abend, mein Geburtstag, muss ihm wie ein großer Sieg vorgekommen sein. Er hatte seine Mutter verloren. Er hatte seine Frau verloren. Aber seine Tochter … Wenigstens mich hatte er behütet, auch wenn er in all den Jahren einen hohen Preis dafür bezahlen musste. Er hatte seine Karriere für mich geopfert, seine Nachbarn, sein Heim, seine eigenen Bedürfnisse und letzten Endes sogar seine Frau aufgegeben – für mich.
Ich sah meinen Vater distanziert, unnachgiebig,
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