Kuehles Grab
streng, aggressiv vor mir, konnte mich jedoch nicht erinnern, ihn jemals verbittert oder hinterhältig erlebt zu haben. Nun, da ich die ganze Geschichte kannte, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als die Zeit zurückdrehen zu können, um ihm zu sagen, wie leid mir alles tat, ihn dankbar in die Arme zu schließen und ihm zu versichern, dass ich ihn endlich verstand. Andererseits hatten Freundlichkeiten nie zu den Dingen gehört, die er von mir erwartete.
Amy Marie Grayson. Amy Marie.
Fast konnte ich es hören. Die sanfte, melodiöse Stimme meiner Mutter. »Das ist mein kleiner Engel … Guten Morgen Amy-Schätzchen.«
Ich weinte. Ich schluchzte heftig und spürte vage, wie Bobby die Hand auf meine Schulter legte. Dann wurde der Wagen langsamer, blieb stehen. Mein Sicherheitsgurt wurde gelöst. Bobby zog mich auf seinen Schoß – ein schwieriges Unterfangen, weil das Lenkrad im Weg war. Ich vergrub mein Gesicht an Bobbys Schulter und klammerte mich an ihn wie ein Kind. Ich weinte, weil meine Eltern, um mein Leben zu retten, auf alles verzichtet hatten und ich ihnen das so übelgenommen hatte.
»Ganz ruhig«, beschwichtigte mich Bobby.
»Dori ist meinetwegen gestorben.«
»Ruhig.«
»Genau wie meine Mutter und mein Vater. Und fünf weitere Mädchen. Und weshalb? Was ist an mir so verdammt Besonderes? Ich kann nicht mal einen Job behalten, und mein einziger Freund ist ein Hund.«
Wie auf Stichwort begann Bella zu wimmern. Ich hatte ganz vergessen, dass sie auch im Auto saß. Sie sprang über die Sitzlehne, um mir nahe zu sein, und stieß mit der Vorderpfote mein Bein an. Bobby schob sie nicht weg, sondern raunte mir leise Worte zu, um mich zu trösten. Ich spürte seine kräftigen Arme.
Ich war froh, dass wir im Auto am Rand einer belebten Straße und nicht in meiner Wohnung saßen, denn dort hätte ich ihm die Kleider ausgezogen, um seine Haut zu berühren, mit der Zunge über seinen Bauch zu streichen und das Salz meiner Tränen auf seiner Brust zu schmecken.
Bobby küsste mich. Der Kuss war so zart, so hingebungsvoll, dass ich erneut in Tränen ausbrach. Bis ich seine Hand nahm, sie unter mein Shirt schob und fest auf meine Brust presste. Ich wollte mich nicht wie Glas fühlen, und erst recht sollte er mich nicht als etwas Zerbrechliches ansehen.
Amy Marie Grayson. Deren Onkel ihre gesamte Familie zerstört hatte. Der sie in der letzten Nacht wiedergefunden hatte.
Ich zog mich zurück, schlug mir den Ellbogen am Steuerrad an. Bella winselte. Schließlich rutschte ich von Bobbys Schoß auf den Beifahrersitz und zog Bella an mich.
Bobby versuchte nicht, mich zurückzuhalten. Er schwieg, atmete schwer.
Ich rieb mir die Wangen, Bella half mir und leckte die Tränen von meinem Gesicht.
»Ich sollte zurück an die Arbeit gehen«, sagte ich.
Bobby sah mich eigenartig an. »Was willst du tun?«
»Ich habe einen Auftrag. Eine Kundin aus Bay Back. Sie wird sich wundern.«
Bobby musterte mich. »Annabelle … Amy? Annabelle.«
»Annabelle. Ich bin … an Annabelle gewöhnt.«
»Annabelle, du brauchst eine neue Bleibe.«
»Warum?«
»Nun, der Verrückte weiß, wo er dich finden kann.«
»Der Verrückte ist nicht mehr der Jüngste. Und ich bin keine leichte Beute.«
»Du kannst kaum einen klaren Gedanken fassen …«
»Du bist nicht mein Vater!«
»Trotz meines persönlichen Interesses –«, er zupfte verlegen an seiner Hose, »– bin ich auch Staatspolizist. Wir sind ausgebildet und wissen, dass hässliche Dinge passieren, wenn ein Stalker in die Wohnung eines Opfers eindringt. Dieser Tommy – oder wie immer er sich auch heute nennen mag – weiß offensichtlich, dass du gesund und munter im North End lebst. In den letzten vierundzwanzig Stunden ist er in die Wohnung einer Kollegin eingebrochen, hat einen Hinterhalt mit vier Kampfhunden arrangiert und ein Geschenk vor deine Tür gelegt. Gib uns ein oder zwei Tage! Zieh in ein Hotel und mach dich unsichtbar! Es geht um deine Sicherheit – du läufst nicht vor ihm davon.«
»In ein Hotel dürfte ich Bella nicht mitnehmen«, erklärte ich eigensinnig und drückte meinen Hund noch fester an mich.
»Oh, um Himmels willen … Es gibt auch hundefreundliche Hotels. Lass mich ein paar Anrufe tätigen.«
»Ich muss arbeiten, verstehst du? Mit Charme allein kann ich meine Rechnungen nicht bezahlen.«
»Dann nimm deine Nähmaschine mit.«
»Ich brauche auch Stoffe, meinen Laptop, Borten und Verzierungen, Muster …«
»Ich helfe dir beim Einpacken und
Weitere Kostenlose Bücher