Kuehles Grab
auf und bat mich zu warten.
Andere Leute standen hinter mir an, also nahm ich meine Tasche und schlenderte durch die Lobby. An der langen Wand hing eine Dokumentation über die Geschichte des Police Department. Ich sah mir die Fotos an und las die Überschriften.
Minute um Minute verging. Meine Hände wurden immer zittriger. Ich überlegte, ob ich Reißaus nehmen sollte, solange ich noch konnte.
Endlich hörte ich Schritte.
Eine Frau erschien und kam auf mich zu. Enge Jeans, hohe Stiefel mit dünnen Absätzen, eine enge weiße Bluse und eine Schusswaffe im Gürtelhalfter. Ihr Gesicht wurde von blonden Locken umrahmt. Sie sah aus wie ein Cover-Girl – bis man ihr in die Augen schaute. Der Blick war ausdruckslos, direkt, ernst.
Ihre blauen Augen richteten sich auf mich, und für einen Moment flackerte etwas in ihrem Gesicht auf. Fast als hätte sie ein Gespenst vor sich. Sie kam näher.
Ich holte tief Luft.
Mein Vater hatte sich geirrt. Es gibt manches im Leben, auf das man sich nicht vorbereiten kann. Wie auf den Verlust der Mutter, wenn man noch ein Kind ist. Oder den Tod des Vaters, bevor man aufgehört hat, ihn zu hassen.
»Was wollen Sie?«, fragte Sergeant Detective D. D. Warren.
»Mein Name ist Annabelle Granger«, sagte ich. »Ich glaube, Sie suchen mich.«
5
Die Büros des Bostoner Morddezernats glichen denen in einer Versicherung. Helle, große Fenster, hohe Decken, ein blaugrauer Teppichboden. Ein sonnendurchfluteter Raum. Die verschiedenen Arbeitsbereiche, die beigefarbene Trennwände voneinander abteilten, waren modern ausgestattet mit schwarzen Aktenschränken und grauen Blumenampeln. An manchen Wänden hingen Familienfotos und die neuesten Kunstwerke der Kinder.
Die Frau am Empfang lächelte Sergeant Warren freundlich zu, als wir hereinkamen. Ihr Blick zuckte zu mir – offen, kein bisschen argwöhnisch. Ich wandte mich ab und nestelte mit den Fingern an meiner Tasche herum. Sah ich aus wie eine Kriminelle? Wie eine Informantin? Oder wie die Verwandte eines Opfers?
Sergeant Warren führte mich in einen kleinen, fensterlosen Raum. Ein rechteckiger Tisch füllte die Kammer fast ganz aus, und für Stühle war kaum noch Platz. Ich suchte an den Wänden nach einem Einwegspiegel. Die Wände waren kahl, in einem gebrochenen Weiß gestrichen. Trotzdem konnte ich mich nicht entspannen.
»Kaffee?«, fragte Sergeant Warren.
»Nein, danke.«
»Machen Sie's sich bequem. Ich bin gleich zurück.«
Sie ließ mich allein. Ich stellte meine Tasche ab und schaute mich um, aber es gab nichts, was ich mir ansehen, nichts, womit ich mich beschäftigen konnte.
Die Tür ging auf. Warren kehrte zurück und brachte einen Kassettenrekorder mit.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
Sie taxierte mich ungerührt. »Ich dachte, Sie sind hergekommen, um eine Aussage zu machen.«
»Kein Mitschnitt.«
»Warum nicht?«
»Weil Sie mich für tot erklärt haben, und ich beabsichtige, es dabei zu belassen.«
Sie stellte den Rekorder auf den Tisch, schaltete ihn jedoch nicht ein. Sie musterte mich lange.
Wir waren in etwa gleich groß. An ihren breiten Schultern und den muskulösen Armen erkannte ich, dass sie auch mit Gewichten trainierte.
Ich setzte mich, und nach einem Moment folgte sie meinem Beispiel.
Wieder ging die Tür auf. Ein Mann in brauner Hose und blauem Hemd kam herein. Die Dienstmarke klemmte an seinem Gürtel. Ein weiterer Ermittler, nahm ich an. Er war nicht groß, schlank und sehnig, mit hagerem, kantigen Gesicht. In dem Moment, in dem er mich sah, stutzte er, hatte sich aber sofort wieder unter Kontrolle.
Er hielt mir die Hand hin. »Detective Robert Dodge, Massachusetts State Police.«
Ich drückte ihm unsicher die Hand. Er hatte kühle graue Augen, die alles mitbekamen.
»Möchten Sie ein Wasser? Sonst etwas zu trinken?«
»Mit Verlaub, ich würde diese Sache gern hinter mich bringen«, erwiderte ich.
Die beiden wechselten einen Blick. Dodge setzte sich auf den Stuhl gleich neben der Tür. Mir wurde es allmählich zu eng in diesem Kabuff. Ich legte die Hände auf den Schoß und strengte mich an, sie still zu halten.
»Mein Name ist Annabelle Granger«, begann ich. Dodge griff nach dem Rekorder, Warren hielt ihn mit einer kurzen Berührung zurück.
»Wir schneiden das Gespräch nicht mit«, erklärte sie. »Zumindest vorerst.«
Dodge nickte; ich atmete tief durch und versuchte, meine Gedanken zu sammeln. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte ich die Story unzählige Male im Geist
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