Kuehles Grab
wiederholt und geübt. Zwanghaft hatte ich alle Artikel über das Grab in Mattapan und die sechs Leichen gelesen, die dort gefunden worden waren. Allerdings waren bisher kaum Einzelheiten bekannt – die forensische Anthropologin hatte lediglich bestätigt, dass die Leichen alle weiblich waren und das Grab allem Anschein nach schon Jahrzehnte alt sein musste. Nur ein einziger Name war bekanntgegeben worden – meiner.
Da genauere Informationen fehlten und die Nachrichtensender ihre Zeit irgendwie füllen mussten, stellten die Journalisten wilde Spekulationen an. Manche meinten, die unterirdische Kammer sei ein altes Mafiagrab. Oder es handelte sich um einen ehemaligen Friedhof der Irrenanstalt. Eine andere Mutmaßung war, dass das Grab so etwas wie der Hobbykeller eines wegen Mordtaten eingewiesenen Patienten gewesen sein könnte. Oder eine Satanssekte habe ihr Unwesen in Mattapan getrieben, und die Leichen seien Opfer eines Hexenprozesses. Ich selbst hatte keine Ahnung, was in Mattapan passiert war. Und ich war nicht hergekommen, weil ich der Polizei helfen konnte, sondern weil ich hoffte, sie könnten mir helfen.
»Meine Familie ergriff zum ersten Mal die Flucht, als ich sieben Jahre alt war«, begann ich und erzählte den beiden Detectives meine Geschichte. Von den vielen Umzügen, der endlos langen Liste von falschen Namen. Vom Tod meiner Mutter und meines Vaters.
Detective Dodge machte sich ein paar Notizen. D. D. Warren behielt mich die meiste Zeit im Auge.
Ich kam schneller zum Ende, als ich selbst gedacht hätte. Kein großes Finale. Meine Kehle war trocken, und ich wünschte, ich hätte mir wenigstens ein Glas Wasser bringen lassen.
»In welchem Jahr sind Sie von hier weggegangen?«, fragte Detective Dodge, nachdem ich geendet hatte.
»Im Oktober 1982.«
»Und wie lange sind Sie in Florida geblieben?«
Ich tat mein Bestes, die lange Reihe unserer Aufenthaltsorte noch einmal aufzuzählen. Städte, Daten, falsche Identitäten. Die Zeit hatte meine Erinnerungen mehr verwischt, als ich gedacht hatte. In welchem Monat waren wir nach St. Louis gezogen? War ich zehn oder elf, als wir nach Phoenix kamen? Und die Namen … In Kansas City hießen wir Jones, Jenkins, Johnson? So ähnlich.
Ich klang immer weniger überzeugend und fühlte mich in die Defensive gedrängt, dabei hatten sie mich bis jetzt noch nicht einmal ins Kreuzverhör genommen.
Detective Warren musterte mich immer argwöhnischer. »Eine interessante Geschichte, aber Sie haben bisher nicht erwähnt, warum Ihre Familie ständig auf der Flucht war.«
»Das weiß ich selbst nicht.«
»Sie wissen es nicht?«
»Mein Vater hat es mir nie erklärt. Er betrachtete es als seine Aufgabe, sich um all das zu kümmern und mich nicht einzuweihen.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. Ich konnte es ihr nicht verübeln. »Haben Sie eine Geburtsurkunde?«
»Wegen meines echten Namens? Ich habe keine.«
»Was ist mit Führerschein, Sozialversicherungskarte? Der Heiratsurkunde Ihrer Eltern? Einem Familienfoto? Irgendetwas müssen Sie doch haben.«
»Nein.«
»Nein?«
»Die Originalpapiere könnten gefunden und gegen uns verwendet werden.« Ich klang wie ein Papagei.
Sergeant Warren beugte sich vor. Aus der Nähe konnte ich die Schatten unter ihren Augen, die kleinen Fältchen und die blassen Wangen sehen. »Warum, zum Teufel, sind Sie zu uns gekommen, Annabelle? Sie haben uns nichts erzählt, nichts an die Hand gegeben. Sind Sie scharf darauf, in die Nachrichten zu kommen? Stehlen Sie dem armen toten Mädchen die Identität, um Ihre fünfzehn Minuten Ruhm zu bekommen?«
»Wie ich schon sagte, ich hatte nur wenige Minuten Zeit zum Packen und habe nicht daran gedacht, mein Album mitzunehmen.«
»Wie praktisch.«
»Hey!« Allmählich wurde ich wütend. »Sie wollen Beweise? Dann beschaffen Sie sich welche. Immerhin sind Sie die Polizei. Mein Vater hat am Massachusetts Institute of Technology gearbeitet. Russell Walt Granger. Forschen Sie nach, dort wird es Unterlagen geben. Meine Familie wohnte in der Oak Street 282 in Arlington. Suchen Sie in Ihren eigenen verdammten Akten. Meine Familie ist von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden. Ich bin sicher, dass Sie das in Ihren Akten vermerkt haben.«
»Wenn Sie so viel wissen«, erwiderte sie ausdruckslos, »wieso haben Sie dann nicht selbst Recherchen angestellt?«
»Weil ich keine Fragen stellen kann!«, rief ich. »Ich weiß nicht, vor wem ich Angst habe.«
Ich schob meinen Stuhl zurück, entsetzt
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