Kuehles Grab
Serienmörder ergriffen hatte, erschien es mir bedeutsam, dass er letzten Endes nicht durch die Hand eines Kriminellen gestorben war. Ein überarbeiteter, des Englischen kaum mächtiger Taxifahrer hatte ihn das Leben gekostet. Der Chauffeur wurde nie vor Gericht gestellt, da er drohte, eine Klage gegen die Stadt anzustrengen: Die Umleitung wegen einer Baustelle sei nicht ausreichend gekennzeichnet gewesen und somit müsse die Stadt eine Teilschuld an dem schrecklichen Unfall übernehmen.
Ich fragte mich, ob sich mein Vater sein Leben lang vor den falschen Dingen gefürchtet hatte. Und von da war es nur ein winziger Schritt zu der Überlegung, ob er überhaupt jemals etwas zu befürchten gehabt hatte.
Was, wenn sich nie ein Monster im Schrank versteckt hatte? Wenn nie ein mordlustiger Mann darauf gelauert hatte, sich die kleine Annabelle Granger zu schnappen?
Akademiker sind bekannt für ihren brillanten, scharfen Verstand. Speziell Mathematiker. Sie waren aber auch zerstreut. Könnte die Gefahr nur ein Hirngespinst meines Vaters gewesen sein?
Um ehrlich zu sein, wenn ich auf unser Zigeunerleben zurückblicke, kann ich mich nicht erinnern, jemals etwas Ungewöhnliches bemerkt zu haben. Nie hatte ich das Gefühl, beobachtet oder verfolgt zu werden. Mir fiel nicht ein einziges Mal ein Auto auf, das so langsam an mir vorbeifuhr, dass der Fahrer mich genauer in Augenschein nehmen konnte. Niemals fühlte ich mich bedroht; und man kann mir glauben, ich habe viel darüber nachgedacht – jedes Mal, wenn ich nach Hause kam und mich fünf gepackte Koffer an der Wohnungstür empfingen. Was war diesmal schiefgegangen? Was hatte ich angestellt? Die Antworten auf diese Fragen bekam ich nie.
Mein Vater hatte seinen privaten Krieg geführt.
Meine Mutter und ich waren ihm einfach gefolgt.
Das alles ging mir wieder durch den Kopf, als ich in die überfüllte U-Bahn voller potentieller Gefahren stieg und dennoch sicher mein Ziel erreichte. Als ich die Treppe hinauf in die rasch hereinbrechende Nacht ging, nach links abbog und wieder einmal mein winziges Apartment ansteuerte.
Meine Schritte waren energisch und selbstsicher, die Schultern gestrafft, der Kopf hoch erhoben. Mit dieser Haltung signalisierte ich nicht nur möglichen Angreifern, dass ich mich wehren konnte, sondern sie drückte auch meine Freude auf zu Hause aus. Ich freute mich, meine Hündin Bella wiederzusehen, und wusste, dass sie nach einem Tag ganz allein in der Wohnung schon sehnsüchtig auf mich wartete.
Vielleicht gingen wir noch am Wasser joggen, auch wenn es in einer Stadt mit hoher Verbrechensrate gefährlich war, im Dunkeln unterwegs zu sein. Wir würden rennen, und ich hätte meinen Elektroschocker bei mir.
Ich war am Leben. Ich war jung und musste nach vorn schauen. Irgendwann wollte ich mein Unternehmen erweitern, vielleicht zwei oder drei Näherinnen einstellen und richtige Geschäftsräume mieten. Das Nähen machte mir Spaß, und ich hatte ein gutes Gespür für Farben und Räume. Ich hatte sogar schon daran gedacht, Kurse für Innenarchitektur zu besuchen.
Manchmal träumte ich davon, einen ganz besonderen Menschen kennenzulernen. In der kleinen Gemeindekirche um die Ecke machte ich flüchtige Bekanntschaften, und hin und wieder versuchte ich, mich mit jemandem zu verabreden. Vielleicht würde ich mich eines Tages verlieben, heiraten, ein Baby haben. Wir würden in einen Vorort ziehen. Ich wollte ein Dutzend Rosen pflanzen und ein Wandgemälde in jedes Zimmer malen. Mein Mann dürfte sich niemals Koffer oder Reisetaschen anschaffen – er würde das für eine meiner charmanten Marotten halten.
In meinen Träumen bekam ich eine Tochter – es war immer ein Mädchen, nie ein Junge. Ich würde sie Leslie Ann nennen und ihr ein Dutzend Keramikbecher mit ihrem Namen kaufen.
All das ging mir durch den Kopf, während ich das Apartmentgebäude erreichte, nach links und rechts schaute – keine Fremden kauerten in den Schatten –, dann die Holztür aufschloss. Helles Licht flammte im Eingangsflur auf. An der linken Wand hingen Briefkästen. Ich schloss die Haustür und vergewisserte mich, dass sie richtig ins Schloss fiel.
Ich nahm meine Post aus dem Briefkasten: Rechnungen, Werbung und, großartig, der Scheck einer Kundin. Dann spähte ich durch die Glastür, um sicherzugehen, dass die Luft in der Lobby rein war. Keine Menschenseele zu sehen.
Ich betrat die Lobby und stieg die knarrende Treppe in den vierten Stock hinauf. Bellas freudiges Winseln
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