Kuehles Grab
Gesichter, die sich an das durchsichtige Plastik drückten. Alte Fotos von der zwölfjährigen Catherine mit bleichen, ausgezehrtem Gesicht, großen Augen und riesigen schwarzen Pupillen nach den dreißig Tagen allein in der Dunkelheit.
Und natürlich das andere Bild, das er wahrscheinlich für den Rest seines Lebens nicht mehr loswerden würde. Das Gesicht von Catherines Mann Jimmy Gagnon, kurz bevor ihm die Kugel aus Bobbys Gewehr den Schädel zerschmettert hatte. Noch nach zwei Jahren träumte Bobby vier- oder fünfmal in der Woche von diesen Schüssen.
Selbstverständlich hatte er psychiatrischen Beistand gehabt. Noch heute traf er sich gelegentlich mit seinem alten Lieutenant, der ihm als Mentor diente, und nahm sogar an Treffen mit Polizisten teil, die wie er in kritische Situationen geraten waren. Aber soweit er es beurteilen konnte, bewirkten diese Maßnahmen nicht viel. Man veränderte sich, wenn man einem Menschen das Leben genommen hatte.
Manche Tage waren gut, manche schlecht, und dazwischen lagen lange Zeiten, die weder das eine noch das andere waren. D. D. könnte recht haben. Möglicherweise gab es zwei Bobby Dodges: den Bobby vor den Schüssen und den nach den Schüssen.
Bobby ließ die Dusche laufen, bis das Wasser kalt war, trocknete sich ab und warf einen Blick auf die Uhr. Ihm blieb noch eine ganze Minute fürs Essen. Also: Hühnchen aus der Mikrowelle.
Er stellte zwei Hühnerbrüstchen in die Mikrowelle, dann ging er zurück ins Bad und rasierte sich.
Er war bereits fünf Minuten zu spät dran, zog sich saubere Klamotten an, öffnete eine Coladose, legte die zwei Hühnerbrüstchen auf einen Pappteller und machte seinen ersten Fehler: Er setzte sich.
Nach drei Minuten schlief er tief und fest auf dem Sofa, das Hühnchenfleisch fiel auf den Boden, den Pappteller hatte er noch auf dem Schoß. Von den letzten fünfundsechzig Stunden hatte er nur vier geschlafen.
Irgendwann schreckte Bobby benommen und orientierungslos auf. Er suchte nach seinem Gewehr. Lieber Himmel, er brauchte seine Waffe. Jimmy Gagnon kam auf ihn zu, packte ihn.
Bobby sprang auf, bevor das letzte Traumbild verschwand. Plötzlich fand er sich in seiner eigenen Wohnung wieder und bedrohte mit einem fettigen Pappteller den Fernseher. Sein Herz raste.
Ein Angsttraum.
Er zählte bis zehn. Dieses Ritual wiederholte er dreimal, bis sich sein Pulsschlag beruhigt hatte.
Er legte den Teller weg, hob das Hühnerfleisch vom Boden auf. Sein Magen knurrte.
Als er Catherine Gagnon zum ersten Mal begegnete, war er als Scharfschütze zu einem Einsatz gerufen worden. Jemand hatte gemeldet, dass ein Mann Frau und Kind mit einer Schusswaffe bedrohte. Bobby hatte Posten bezogen und beobachtete die Szene durchs Zielfernrohr. Jimmy Gagnon stand am Fußende des Bettes, fuchtelte mit einer Waffe herum und brüllte so wütend, dass Bobby die Sehnen an seinem Hals sehen konnte. Dann entdeckte er Catherine mit ihrem vierjährigen Sohn auf dem Schoß. Sie hielt dem kleinen Nathan die Ohren zu und zwang ihn, sie anzusehen, als wollte sie ihn vor dem Schlimmsten abschirmen.
Die Situation eskalierte. Jimmy riss Catherine das Kind aus dem Arm. Dann drückte er den Lauf der Waffe an den Kopf seiner Frau.
Bobby konnte in der Fernrohrvergrößerung die Worte von Catherines Lippen ablesen.
»Und was jetzt, Jimmy? Was bleibt uns noch?«
Auf einmal lächelte Jimmy, und in diesem Lächeln erkannte Bobby, was als Nächstes geschehen würde.
Jimmy Gagnons Finger krümmte sich am Abzug, und fünfzig Schritte entfernt, im dunklen Schlafzimmer eines Nachbarn, drückte Bobby ab und tötete Jimmy Gagnon.
Nach diesem Todesschuss beging Bobby zweifellos einige Fehler. Zum einen fing er an zu trinken. Dann traf er sich mit Catherine in einem Museum. Ein selbstzerstörerischer Akt. Catherine Gagnon war überaus attraktiv. Er ließ sich auf Catherine ein – nicht körperlich, wie D. D. und die meisten anderen annahmen, sondern emotional, was vielleicht noch verheerender war und der Grund dafür, dass Bobby sich nie die Mühe machte, die Vermutungen seiner Kollegen zu zerstreuen. Er hatte die Grenze überschritten. Er mochte Catherine, und als einige Menschen aus ihrem Umfeld auf grausige Art starben, fürchtete er um ihr Leben.
Aus gutem Grund, wie sich herausstellte.
Bis heute behauptete D. D., dass Catherine Gagnon eine der gefährlichsten Frauen war, die je in Boston gelebt hatten, eine Frau, die höchstwahrscheinlich die Erschießung ihres Mannes
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