Kuehles Grab
www.doenetwork.org. in mein Suchprogram: Und nach zwei Sekunden war ich dort.
Das Doe-Netzwerk befasste sich hauptsächlich mit alten Vermisstenfällen und versuchte, jedes Mal, wenn irgendwo menschliche Überreste gefunden wurden, einen Abgleich mit den Angaben von alten oder neuen Vermisstenmeldungen herzustellen. Das Motto des Betreibers war: »Es gibt kein Zeitlimit, ein Rätsel zu lösen.«
Dieser Gedanke jagte mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Mit einer Hand hielt ich die Phiole mit der Asche meiner Eltern fest, mit der anderen tippte ich: »Massachusetts.«
Der erste Treffer verursachte mir Schwindelgefühle. Drei Fotos von ein und demselben Jungen – das erste, als er zehn war, das zweite zeigte ihn nach Veränderungen durch einen Computer mit zwanzig, das dritte mit fünfunddreißig. Er wurde seit 1965 vermisst und war wahrscheinlich tot. Er hatte im Garten gespielt und war von einer Sekunde auf die andere verschwunden. Ein Pädophiler, der in Connecticut eine Haftstraße absaß, behauptete, das Kind vergewaltigt und ermordet zu haben, konnte sich jedoch nicht erinnern, wo er die Leiche verscharrt hatte.
Ich überlegte, wie es für Eltern sein musste, diese gemorphten Fotos ihres mittlerweile erwachsenen Kindes anzuschauen. Zu sehen, was aus ihrem Sohn geworden wäre, wäre die Mutter nicht kurz ins Haus gegangen, weil das Telefon klingelte, oder der Vater nicht unter den Wagen gekrochen, um einen Ölwechsel vorzunehmen …
Kämpfe!, hatte mir mein Vater eingebläut. Vierundsiebzig Prozent der getöteten entführten Kinder wurden in den ersten drei Stunden ermordet. Sieh zu, dass du diese ersten drei Stunden überlebst! Gib dem Bastard keine Chance!
Ich weinte und wusste selbst nicht, warum. Ich kannte diesen kleinen Jungen nicht. Höchstwahrscheinlich war er schon vor mehr als vierzig Jahren gestorben, aber ich konnte seine Angst nachfühlen. Ich selbst hatte sie jedes Mal gespürt, wenn mein Vater mit seinen Lektionen und Trainingsübungen begann. Kämpfen? Was kann ein Kind schon gegen einen ausgewachsenen Mann ausrichten? Mein Vater mochte Illusionen gehabt haben, ich hingegen war immer schon Realistin gewesen.
Ich wechselte zum nächsten Fall: 1967. Ich schaute nur noch auf die Daten; die Fotos wollte ich nicht mehr sehen. Ich musste fünfmal weiterklicken. Dann stieß ich auf den 12. November 1982. Ich blickte starr auf Dori Petracelli. Auch hier ein Computerfoto, das sie im Alter von dreißig zeigte. Ich las den Fallbericht und erfuhr, was meiner besten Freundin zugestoßen war.
Dann ging ich ins Badezimmer und übergab mich.
Später – nach vierzig, fünfzig Minuten – hatte ich die Leine in der einen, den Elektroschocker in der anderen Hand. Bella sprang um mich herum und stolperte schier über meine Füße, weil sie es so eilig hatte, die Treppe hinunterzukommen.
Ich hakte die Leine ans Halsband, und wir liefen los.
Als wir nach guten anderthalb Stunden nach Hause kamen, glaubte ich, mich wieder in der Gewalt zu haben. Mir war kalt, ich fühlte mich krank. Noch hatte ich die alten Koffer und wollte sofort mit dem Packen anfangen.
Dann jedoch schaltete ich die Nachrichten ein.
Bobby kam um kurz nach neun Uhr abends nach Hause. Er hatte ungefähr fünfundvierzig Minuten Zeit, zu duschen, etwas zu essen und zu trinken und nach Roxbury zurückzufahren. Er fuhr acht Blocks weit, um einen Parkplatz zu finden, dann hatte er die Nase voll und stellte seinen Wagen direkt vor seinem Haus ab. Ein Bostoner Cop würde sich ins Fäustchen lachen, wenn er einem Staatsbullen einen Strafzettel verpassen konnte.
Eine erfreuliche Überraschung: Mrs. Higgins, eine seiner Nachbarinnen, hatte ihm einen Teller mit Plätzchen vor die Tür gestellt. »Hab die Nachrichten gesehen. Sie müssen bei Kräften bleiben«, stand auf dem Zettel, den sie dazugelegt hatte.
Bobby aß drei Zitronenkekse, während er die Post durchsah, die vor der Wohnungstür auf dem Boden gelegen hatte. Kauend und ohne zu schmecken, was er aß, eilte er durch den Flur in sein Schlafzimmer. Er knöpfte sich die Hose mit einer Hand auf und leerte mit der anderen die Taschen aus. Dann zog er Hemd und Hose aus und tapste in Socken und Unterhose in sein blau gekacheltes Bad und drehte die Dusche auf.
Er stand minutenlang unter dem heißen Strahl und wünschte wie immer, dass das Wasser das Entsetzen von ihm spülen würde.
Ein Bild nach dem anderen ging ihm durch den Kopf. Die sechs kleinen Mädchen, die mumifizierten
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