Kuehles Grab
Schmetterlinge, das Kätzchen. Aber meistens zeichnete ich den Namen nach – ein ums andere Mal.
Annabelle. Mein Name ist Annabelle.
Etwa sechs Wochen später fand meine Mutter meinen Becher. An einem Samstag. Mein Vater war bei der Arbeit. Soweit ich mich erinnere, saß ich im Wohnzimmer und sah mir einen Zeichentrickfilm an. Meine Mutter hatte beschlossen, ein wenig Ordnung in der Wohnung zu schaffen und die alten Kleider in den Secondhandladen zu bringen, in dem wir fast all unsere Sachen kauften.
Sie schrie nicht, schimpfte nicht. Ich glaube, es war das Schweigen, die fürchterliche Stille, die mich alarmierte. Normalerweise machte meine Mutter immer Geräusche, wenn sie in der kleinen Wohnung herumhantierte, Wäsche bügelte, mit Töpfen und Geschirr klapperte oder Schranktüren öffnete.
Ich erhob mich gerade, als sie, mit meinem Becher in der Hand, in der Tür auftauchte. Sie wirkte erstaunt, aber gefasst.
»Ist der Becher ein Geschenk?«, fragte sie ruhig.
Mit klopfendem Herzen schüttelte ich stumm den Kopf.
»Woher hast du ihn dann?«
Ich konnte ihr nicht in die Augen schauen. »Ich habe ihn gesehen. Ich … er hat mir so gut gefallen.«
»Hast du ihn gestohlen?«
Wieder schüttelte ich den Kopf. »Ich habe mein Milchgeld gespart.«
»O Annabelle …« Meine Mutter schlug die Hand vor den Mund. Um mir zu zeigen, dass sie erschrocken oder entsetzt war? Oder weil sie die unverzeihliche Sünde begangen hatte, mich mit meinem wahren Namen angesprochen zu haben?
Ich war mir nicht sicher. Doch dann breitete sie die Arme aus, und ich lief zu ihr, umklammerte sie ganz fest und fing an zu weinen, weil es so schön war, meinen echten Namen aus ihrem Munde zu hören. Danach hatte ich mich so sehr gesehnt.
Mein Vater kam und ertappte uns, während wir wie zwei Verschwörer in inniger Umarmung im Wohnzimmer standen. Meine Mutter hielt den Becher noch in der Hand.
Seine Reaktion kam prompt. Er nahm den rosafarbenen Becher und fuchtelte damit in der Luft herum.
»Was, zum Teufel, ist das?«, brüllte er.
»Ich wollte nicht …«
»Hat dir das ein Fremder gegeben?«
»N-n-nein …«
»Ist es ein Geschenk von ihr?« Er zeigte mit dem Finger auf Mutter, als wäre sie noch schlimmer als ein Fremder.
»Nein …«
»Was denkst du dir dabei? Glaubst du, das Ganze ist ein Spiel? Meinst du, ich habe meine Stelle am MIT aufgegeben und wir leben hier in dieser miesen Absteige, weil wir ein verdammtes Spiel spielen? Was geht nur in deinem Kopf vor?«
Ich brachte kein Wort mehr heraus und starrte ihn erschrocken an. Sein Gesicht war hochrot, die Augen blitzten vor Zorn. Ich saß in der Falle und wünschte mir verzweifelt, entkommen zu können.
Er wandte sich an meine Mutter. »Hast du davon gewusst?«
»Ich habe den Becher gerade erst gefunden«, erwiderte sie ruhig und legte beschwichtigend die Hand auf seinen Arm. »Russ …«
»Hal, ich heiße Hal! « Er schüttelte ihre Hand ab. »Himmel, du bist ja fast so schlimm wie sie. Nun, ich weiß, wie ich dem ein Ende setzen kann.«
Er polterte in die Küche, riss die Schublade unter dem Telefon auf und nahm einen Hammer heraus.
»Sophia«, sagte er betont und sah mich dabei an. »Komm her!«
Er setzte mich auf einen Stuhl, stellte den Becher vor mich auf den Küchentisch und drückte mir den Hammer in die Hand.
»Tu es!«
Ich schüttelte den Kopf.
» Tu es! «
Wieder ein Kopfschütteln.
»Russ …«, flehte Mutter.
»Verdammt noch mal, Sophia, du zerschlägst jetzt diesen Becher. Vorher stehst du nicht auf, verstanden? Und wenn es die ganze Nacht dauert. Nimm diesen Hammer in die Hand!«
Es dauerte nicht die ganze Nacht. Nur bis drei Uhr. Und ich weinte nicht. Ich nahm den Hammer mit beiden Händen und führte den Hieb mit solcher Wucht aus, dass ich eine tiefe Kerbe in den Tisch schlug.
Mein Vater und ich hatten kein Problem, weil wir so verschieden, sondern weil wir uns – schon damals – viel zu ähnlich waren.
Als Kind wünscht man sich allmächtige Eltern, die einen vor allem beschützen. Später, als Teenager, will man die Fehler der Eltern sehen, denn das scheint die einzige Möglichkeit zu sein, Selbstbewusstsein zu entwickeln und sich abnabeln zu können. Inzwischen bin ich zweiunddreißig Jahre alt und habe das Bedürfnis, meinen Vater als wahnsinnig einzustufen.
Dieser Gedanke kam mir zum ersten Mal kurz nach seinem Tod. Nachdem er über viele Jahre hinweg penibel Sicherheitsmaßnahmen gegen mögliche Kinderschänder, Vergewaltiger,
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