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Kuehles Grab

Titel: Kuehles Grab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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intelligent und sehr gesellig. Man sollte meinen, dass sich ein Junge mit einer so privilegierten Herkunft absondert, aber er hing oft im Aufenthaltsraum herum, machte Musik oder las anderen Patienten vor. Noch wichtiger: Er drehte Zigaretten. Ich weiß, heutzutage ist das verwerflich, doch damals rauchten alle – die Ärzte, die Schwestern, die Patienten. Wenn man sich die Kooperation eines Patienten sichern wollte, schenkte man ihm am besten Zigaretten.
    Die meisten Zigaretten wurden selbst gedreht, und einigen Patienten, deren Feinmotorik wegen der Medikamente eingeschränkt war, hatten so ihre Schwierigkeiten damit. Christopher half ihnen. Als ich ihn das erste Mal sah, saß er im Frühstücksraum und drehte vergnügt für eine ganze Reihe von Patienten eine Zigarette nach der anderen. Es ist komisch, doch als er aufschaute und mich ansah, wusste ich sofort, dass ich ihn nicht mochte. Ich ahnte, dass er Ärger machen würde. Es waren seine Augen. Die Augen eines Haifischs.«
    »Was hat Eola gemacht?«, warf Dodge ein. »Warum wurde er dann doch als so bedrohlich eingestuft?«
    »Er durchschaute das System.«
    Ich zuckte zusammen. Unwillkürlich presste ich das Ohr an den offenen Fensterspalt. Ich hatte ein Déjà-vu – mein Vater redete, ein schemenhafter Typ namens Christopher Eola machte dieselben Beobachtungen, die ich einst machte.
    »Das System?«, fragte Dodge nach.
    »Die Arbeitsstunden, Schichtwechsel, Essenspausen. Und vor allen Dingen die Medikationen. Doch erst nach dem Mord an der armen Inge fiel das den Leuten auf. Als die Klinikverwaltung Fragen stellte, kam heraus, dass einige Pfleger während ihrer Schicht schliefen. Nicht nur einer und nicht nur in einer Nacht. Alle schliefen bei jeder Nachtschicht. Das brachte die Oberschwester auf die Palme. Als Jill eines Nachts eine unangekündigte Inspektion durchführte, erwischte sie Eola dabei, wie er etwas ins Essen eines Pflegers mischte. Er wurde auf sie aufmerksam, sah sie an und lächelte plötzlich.
    Als Jill seinen Blick sah, wusste sie, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte. Sie schlug die Tür von außen zu und sperrte Eola ein. Eola versuchte, sie zur Vernunft zu bringen, sagte, sie würde überreagieren, und beteuerte, er könne alles erklären. Jill blieb eisern. Mit einem Mal warf sich Eola gegen die Tür und knurrte wie ein Tier. Ein größerer, kräftigerer Mann hätte die Tür vielleicht aufbrechen können, aber, wie gesagt, Eola hatte Köpfchen, dafür keine Muskeln. Jill hielt Eola eine Viertelstunde gefangen, bis ein Pfleger kam und sie ihm ein Beruhigungsmittel spritzen konnten. Später entdeckten sie, dass Eola anderen Patienten die Thorazin-Kapseln gestohlen und das Pulver in das Essen der Pfleger gemischt hatte. Zudem ermutigte er seine Mitpatienten, Auseinandersetzungen vom Zaun zu brechen und heikle Situationen zu schaffen. Wenn dann ein Pfleger herbeieilte, um die Probleme zu bereinigen, schlüpfte er in die Stationszimmer und machte sich ans Werk. Selbstverständlich hat Christopher niemals etwas zugegeben. Er lächelte nur, wenn man ihm Fragen stellte.«
    Warren und Dodge wechselten einen Blick. »Das klingt, als hätte Eola viel Zeit gehabt, auf dem Gelände herumzustreunen.«
    »Ich schätze schon.«
    »Und in welchem Jahr war das?«
    »Eola wurde 1974 aufgenommen.«
    »In welchem Alter?«
    »Ich glaube, damals war er zwanzig.«
    »Und was wurde aus ihm?«
    »Er wurde schließlich erwischt.«
    »Wobei?«
    »Er organisierte eine Revolte unter den Patienten, beschaffte sich eine der Ledermatten aus einer Gummizelle und rekrutierte die wacheren Patienten, um einen Aufruhr anzuzetteln. Als ein Pfleger auf die Station kam, schleuderten die Patienten die Matte auf ihn und schlugen ihn zusammen. Eola hatte sich jedoch verrechnet. Zu der Zeit war ein anderer Patient hier – Rob George. Ein ehemaliger Schwergewichtschampion. In den ersten zwei Jahren seines Klinikaufenthaltes war er Katatoniker. Drei Tage zuvor war es ihm zum ersten Mal gelungen, ganz allein in den Aufenthaltsraum zu gehen. Der diensthabende Pfleger hatte ihn ohne weitere Zwischenfälle in sein Zimmer zurückgebracht, aber nach nur einer Stunde saß er schon wieder aufrecht im Bett. Es war offensichtlich, dass er allmählich zu sich kam.
    Nun, an dem Abend, an dem Eolas Revolte stattfand, ging es auf der Station drunter und drüber. Und der Radau lockte den Boxchampion aus dem Bett. Rob kam in den Aufenthaltsraum und sah, dass der Pfleger bewusstlos auf dem

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