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Kuehles Grab

Titel: Kuehles Grab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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Erinnerungen an die alten Zeiten sind noch glasklar. Und ich habe mir die Freiheit erlaubt, ein paar Notizen zu machen. Über die damaligen Patienten und, na ja«, er räusperte sich und wirkte für einen Moment unsicher, »– und über gewisse Angestellte. Keine Ahnung, ob Ihnen das weiterhilft, aber ich musste wenigstens irgendwas tun.«
    Dodge fasste in seine Brusttasche und holte ein Notizbuch heraus. Charlie wertete das als Ermutigung und faltete das Blatt Papier auseinander, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Seine Finger zitterten leicht, die Stimme hingegen blieb kräftig.
    »Sind Sie im Bilde über den Klinikbetrieb und die Arbeitsweise?«, fragte er die beiden Detectives.
    »Nein, Sir«, gab Dodge zurück. »Zumindest würden wir gern mehr erfahren.«
    »Wir hatten eintausendachthundert Patienten, als ich herkam«, erklärte Charlie. »Wir nahmen Patienten von sechzehn Jahren an aufwärts an – alle Rassen, Geschlechter und Gesellschaftsschichten. Einige wurden von ihren Familien hergebracht, viele von der Polizei. Auf der Ostseite war die Pflegestation, auf der Westseite, wo wir jetzt stehen, wurden akute Fälle behandelt. Ich habe in der Aufnahme angefangen. Nach einem Jahr wurde ich zum Stationspfleger und zog in den I-Bau. Ich machte Dienst auf der I-4, dem Hochsicherheitstrakt für Männer.
    Es war eine ausgezeichnete Einrichtung. Wir hatten viel zu wenig Personal – oft war ich nachts allein mit vierzig Patienten –, trotzdem leisteten wir gute Arbeit. Dabei brauchten wir nie Zwangsjacken, Bettfesseln oder körperliche Gewalt. Falls einer Schwierigkeiten machte, durften wir den Polizeigriff anwenden oder den Typen in den Schwitzkasten nehmen, um ihn ruhigzustellen, bis Verstärkung kam. Ein Kollege spritzte dann meistens ein Sedativum.
    Die Aufgabe eines Pflegers war, Aufsicht zu führen, die Patienten ruhig, sauber und gesund zu halten. Wir verabreichten die Medikamente, die die Ärzte verschrieben hatten. Ich lernte, Injektionen zu setzen. Manchmal entstanden wirklich brenzlige Situationen, und ich stemmte in meiner Freizeit jede Menge Gewichte, um fit zu sein. Die meisten Männer auch im Hochsicherheitstrakt wollten lediglich wie menschliche Wesen behandelt werden. Wir redeten ruhig und vernünftig mit ihnen und zeigten ihnen damit, dass wir auch von ihnen ein vernünftiges Verhalten erwarteten – es ist erstaunlich, wie oft das funktionierte.«
    »Oft, aber nicht immer?«, schaltete sich Sergeant Warren ein.
    Charlie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht immer. Beim ersten Mal wäre ich beinahe ums Leben gekommen – Paul Nicholas. Mehr als hundert Kilo schwer, ein paranoider Schizophrener. Die meiste Zeit saß er in einer Einzelzelle mit vergitterten Fenstern und einer schweren Ledermatte als Schlafplatz. Heutzutage nennt man so was Gummizelle. Eines Nachts, als ich Dienst hatte, wurde er aber rausgelassen. Mein Vorgesetzter Alan Woodward beteuerte, dass Paulie okay wäre.
    In den ersten Stunden war alles ruhig. So gegen Mitternacht habe ich mich ins Büro im Parterre zurückgezogen, um ein wenig fürs College zu lernen, und plötzlich höre ich oben ein lautes Poltern, als würde ein Frachtzug durch den Flur donnern. Ich reiße den Telefonhörer ans Ohr und gebe das Notsignal durch, dann renne ich hinauf.
    Und da steht Paulie mitten im Aufenthaltsraum und wartet auf mich. In dem Moment, in dem er mich sieht, stürzt er sich auf mich. Ich rolle zur Seite, Paul landet auf der Couch – die kracht unter seinem Gewicht zusammen. Das Nächste, was ich mitkriege, ist, dass sich Paulie einen Stuhl nach dem anderen greift und nach mir schleudert. Ich renne hinter den Ping-Pong-Tisch. Er setzt mir nach, und wir laufen in bester Tom-und-Jerry-Manier rund um den Tisch. Allerdings hat Paulie dieses Spiel bald satt. Er bleibt stehen, zerstört den Tisch mit bloßen Händen.
    Sie denken, ich übertreibe? Das tue ich nicht. Der Typ ist regelrecht aufgepumpt mit Zorn und Testosteron. Als Erstes nimmt er sich den Metallrahmen des Tisches vor, reißt ihn heraus. Und in dem Augenblick wird mir eines klar: Ich bin tot. Der Tisch ist kein großes Hindernis für Paulie. Und siehe da, zwei meiner Kollegen tauchen in der Tür auf.
    ›Packt ihn!‹, schreie ich. ›Wir brauchen eine Injektion!‹
    Aber sie stehen nur da und glotzen. Paulie wütet wie ein Berserker, und die beiden – entschuldigen Sie den Ausdruck, Ma'am – scheißen sich in die Hose.
    ›Hey!‹, kreische ich. ›Tut was, um Gottes

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