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Kuehles Grab

Titel: Kuehles Grab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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verließ die Familie, als ich sechs oder sieben war. Mein Bruder hielt noch acht Jahre länger durch, dann ging auch er.«
    »Sie sind einfach weggegangen?«
    »Mein Vater hatte ein Alkoholproblem.«
    »Oh.«
    Bobby zuckte mit den Achseln. »Damals gab es nur zwei Möglichkeiten: die Flucht ergreifen oder sich sein eigenes Grab schaufeln. Meine Mutter und mein Bruder hatten keine Todessehnsucht.«
    »Aber Sie sind geblieben.«
    »Ich war zu jung«, erwiderte er sachlich. »Meine Beine waren nicht lang genug.«
    Sie blinzelte und wirkte niedergeschlagen. »Und was macht Ihr Vater heute?«
    »Er ist seit fast zehn Jahren trocken. Es war schwer für ihn, aber er hält Kurs.«
    »Großartig.«
    »Ich bin stolz auf ihn.« Zum ersten Mal schaute er in ihre Richtung. Er wusste selbst nicht, warum er noch mehr loswerden wollte, aber es schien ihm wichtig zu sein. »Ich kann selbst nicht besonders gut mit dem Alkohol umgehen. Deshalb weiß ich, welchen Kampf mein Vater ausfechten muss.«
    »Oh.«
    Er nickte. Er hatte einen Mann getötet, sich mit der Witwe des Opfers eingelassen, begriffen, dass er ein Alkoholiker war, einem Serienmörder gegenübergestanden und seine Polizeikarriere im Verlaufe von zwei Jahren aus dem Gleis gebracht. »Oh« war so ziemlich das einzige, was all das beschreiben konnte.
    »Vermissen Sie Ihre Familie?«, wollte Annabelle wissen. »Denken Sie oft an sie? Ehrlich gesagt, ich habe fünfundzwanzig Jahre lang nicht an Dori gedacht. Und jetzt frage ich mich, ob ich sie jemals wieder aus dem Kopf bekomme.«
    »Ich denke nicht so an sie wie früher. Manchmal vergehen Wochen oder ein ganzer Monat, ohne dass ich an sie denke. Aber dann geschieht etwas – Sie wissen schon: Die Red Sox gewinnen die World Series –, und ich überlege: Was George wohl gerade macht? Feiert er in einer Bar in Florida und freut sich für seine Heimatmannschaft? Oder hat er die Red Sox auch ad acta gelegt? Ein paar Tage flippe ich dann fast aus. Ich ertappe mich dabei, wie ich in den Spiegel schaue und mich frage, ob George dieselben Falten um die Augen hat wie ich. Oder ob er ein Versicherungsvertreter mit Bierbauch und Doppelkinn geworden ist. Er war achtzehn, als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe. Ich kann ihn mir gar nicht als erwachsenen Mann vorstellen. Das macht mich manchmal wahnsinnig. Es ist fast, als wäre er tot.«
    »Rufen Sie ihn manchmal an?«
    »Ich habe ihm Nachrichten hinterlassen.«
    »Und er ruft nicht zurück?« Sie klang skeptisch.
    »Bisher hat er es nicht getan.«
    »Und Ihre Mutter?«
    »Dito.«
    »Weshalb? Es ist ja nicht Ihre Schuld, dass Ihr Vater getrunken hat. Warum bestrafen sie Sie?«
    Er musste lächeln. »Sie sind ein netter Mensch.«
    Sie funkelte ihn an. »Das bin ich nicht.«
    Sein Lächeln wurde breiter, doch dann stieß er einen Seufzer aus. Es kam ihm eigenartig vor, über seine Familie zu sprechen, aber es war gar nicht so schlimm. Er hatte seit der Schießerei oft an sie gedacht. Und oft Nachrichten hinterlassen.
    »Ich war vor einiger Zeit bei dieser Psychiaterin«, sagte er. »Auf Befehl meiner Vorgesetzten. Ich war da in einen kritischen Zwischenfall verwickelt …«
    »Sie haben Jimmy Gagnon getötet«, warf Annabelle beiläufig ein.
    »Offenbar waren Sie fleißig im Internet.«
    »Haben Sie mit Catherine Gagnon geschlafen?«
    »Und Sie haben mit D. D. gesprochen.«
    »Also hatten Sie eine Affäre mit ihr?« Annabelle schien aufrichtig überrascht zu sein. Anscheinend hatte sie nur im Trüben gefischt, und er war so dumm gewesen, nach dem Köder zu schnappen.
    »Ich habe Catherine Gagnon nicht einmal geküsst«, gab er entschieden zurück.
    »Aber die Anklage …«
    »Wurde letztendlich fallengelassen.«
    »Erst nach den Schüssen im Hotel …«
    »Fallengelassen ist fallengelassen.«
    »Sergeant Warren hasst Catherine offensichtlich«, sagte Annabelle.
    »D. D. wird sie immer hassen.«
    »Schlafen Sie mit D. D.?«
    »Ich habe meinen Job gemacht«, erklärte er, »und auf einen Mann geschossen, der seine Frau und sein Kind mit einer Schusswaffe bedrohte. Und mein Department schickte mich zur Psychiaterin. Und soll ich Ihnen was sagen? Dieses alte Märchen, dass die Seelenklempner nur über die Mütter ihrer Patienten sprechen wollen, stimmt wirklich. Die Frau hat mich nur nach meiner Mutter ausgefragt.«
    »Gut«, sagte Annabelle, »lassen Sie uns über Ihre Mutter reden.«
    »Genau, ich schüttete der Frau mein Herz aus. Es war interessant. Je länger meine Mutter und mein

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