Kuehles Grab
altes Grab. Und da dachte ich, man müsste den Tatort in den richtigen Kontext stellen.«
Warren nahm das Papier entgegen und sah sich die Zeichnung an. »Das ist perfekt, Charlie – sehr hilfreich. Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit für dieses Gespräch mit uns genommen haben. Sie sind ein echter Gentleman.«
Dodge nahm Adresse und Telefonnummer des Mannes auf. Die Unterredung neigte sich dem Ende zu.
In der letzten Minute, als der Streifenpolizist Charlie zurück zum Wagen eskortierte, sah der alte Herr in meine Richtung. Um besser lauschen zu können, hatte ich mich aufgerichtet, das Gesicht an die Scheibe und das Ohr an den offenen Spalt gedrückt.
Charlie stutzte, als er mich entdeckte.
»Entschuldigen Sie, Miss«, rief er. »Kenne ich Sie nicht irgendwoher?«
Detective Dodge trat eilends zwischen uns. »Das ist nur jemand, der uns bei unseren Ermittlungen behilflich ist«, erklärte er und schob den pensionierten Pfarrer zum Streifenwagen. Charlie wandte sich ab. Ich sank in mich zusammen und schloss hastig das Fenster. Ich kannte Charlie Marvin nicht. Wie kam er auf die Idee, mir schon mal begegnet zu sein?
Der Streifenwagen fuhr los.
Mein Herz pochte wild.
15
Sie schwiegen beide auf der Fahrt ins North End: Annabelle schaute aus dem Seitenfenster und spielte mit der kleinen Glasphiole an ihrer Halskette; Bobby sah durch die Windschutzscheibe und trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad.
Bobby glaubte, etwas sagen zu müssen, und probierte im Geiste Verschiedenes aus: Keine Angst. Morgen sieht alles schon besser aus. Das Leben geht weiter.
Das war genau derselbe Unsinn, mit dem ihn die Leute nach der Schießerei abgespeist hatten. Besser, er hielt den Mund. In Wahrheit war Annabelles Leben beschissen, und Bobby hatte das Gefühl, dass es noch schlimmer werden sollte. Insbesondere wenn sie Catherine Gagnon von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
Er hatte Annabelles Namen aus reiner Neugier in dem Gespräch mit Catherine erwähnt; Annabelle behauptete, Catherine nicht zu kennen, aber wie stand es mit Catherine? Wie sich herausstellte, wusste Catherine genauso wenig von Annabelle wie Annabelle von ihr.
Dennoch waren beide Frauen im Visier eines Triebtäters gewesen, dessen Spezialität unterirdische Kammern waren. Sie sahen sich verblüffend ähnlich. Und beide hatten Anfang der achtziger Jahre in Boston gelebt.
Bobby glaubte, dass es einen Zusammenhang gab – er musste es glauben.
Augenscheinlich waren die Chefs seiner Meinung, denn sie hatten den Arizona-Flug abgesegnet. Die Theorie war, dass sich irgendwas ergeben würde, wenn sie Catherine und Annabelle zusammenbrachten.
Noch vor kurzem war ihm die Idee blendend erschienen. Jetzt war er nicht mehr so sicher. Zu viele Fragen beschäftigten ihn. Warum war Annabelles Familie immer wieder weggelaufen, nachdem sie Massachusetts verlassen hatte? Wie konnte Annabelle in Arlington zur Zielscheibe werden, wenn der Täter vom Boston State Mental in Mattapan aus operierte? Und wieso schien der ehemalige Pfleger Charlie Marvin Annabelle wiederzuerkennen, wenn sie nie einen Fuß in die Klinik gesetzt hatte?
Bobby stieß die Luft aus und rieb sich den Nacken. Die Liste der Fragen wurde immer länger – wann würde er endlich auf Antworten stoßen? Vor der nächsten Besprechung der Sondereinheit musste er Telefonate, die ihn normalerweise zwölf Stunden kosten würden, in zwei Stunden quetschen.
Wieder fragte er sich, ob er die niedergeschlagene Frau auf dem Beifahrersitz mit ein paar Bemerkungen aufmuntern sollte.
Noch keine Antworten. Er fuhr und hielt die Hände auf dem Steuerrad.
Die Nacht brach herein, das Ende des Tages erweckte die Stadt zum Leben. Die Route 93 vor ihnen war ein langes Band aus roten Bremslichtern, das sich zu einer Insel aus leuchtenden Wolkenkratzern schlängelte. Die Menschen behaupteten, dass die Bostoner Skyline bei Nacht besonders schön sei. Bobby hatte sein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht. Er verstand das nicht. Große Gebäude waren große Gebäude. Und zu dieser Tageszeit wäre er am liebsten daheim.
»Haben Sie jemals einen nahestehenden Menschen verloren?«, fragte Annabelle plötzlich. »Ein Familienmitglied, einen Freund?«
Nach dem langen Schweigen hatte ihn die Frage so erschreckt, dass er eine aufrichtige Antwort gab: »Meine Mutter und meinen Bruder. Vor langer Zeit.«
»Oh, das tut mir leid … Das ist traurig.«
»Nein – sie leben noch. Es ist nicht so, wie Sie denken. Meine Mutter
Weitere Kostenlose Bücher