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Kühlfach vier

Titel: Kühlfach vier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Profijt
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nicht nur an den Rand der Katastrophe, sondern mitten hinein gebracht habe, fühle ich mich genötigt, einiges
     klarzustellen.
    Sie kennen das sicher, dass man einen unbekannten Menschen sieht und gleich beim ersten Blick weiß, ob dieser Mensch fröhlich
     oder griesgrämig ist. Martin gehört zu den Fröhlichen. Man sieht seinem Gesicht gleich an, dass er gern lacht, und die Art,
     wie die Kollegen ihn an diesem Morgen begrüßten, zeigte mir, dass er beliebt ist. Ein gewisser Jochen kam an Martins Schreibtisch,
     legte ihm einen alten, abgegrabbelten Stadtplan auf den Tisch und erklärte, den habe er aus dem Wochenend-Kurztrip mitgebracht.
     Martin nahm den Stadtplan in die Hand, faltete ihn auseinander, betrachtete ihn ausführlich und bedankte sich überschwänglich.
    »Wo hast du den her?«, fragte er.
    »Vom Trödel«, erklärte Jochen mit stolzgeschwellter Brust.
    (Ja, wir reden hier von einem alten Stadtplan – so einem Ding, wo Straßen eingezeichnet sind und Bahnlinien und Häuser und
     so.)
    »Das ist eine echte Rarität«, begeisterte sich Martin.
    Jochen schlug ihm noch mal auf die Schulter, versicherte, dass es ihm ein besonderes Vergnügen gewesen sei, und nahm Martins
     neuerlichen Dank grinsend entgegen. Hätte ich noch einen Mund gehabt, dann hätte mir der so weit offen gestanden, dass Sie
     mir ein komplettes Burger-XXL-Menü quer hätten reinschieben können. Einschließlich Nachtisch. Aber ich riss mich zusammen,
     ich wollte ihn doch nicht verärgern und hatte mir ja genau deshalb vorgenommen, ihn meine Gegenwart nicht spüren zu lassen, |58| also hielt ich die Klappe. Aber es fiel mir schwer, das kann ich Ihnen versichern.
    Der Tag hatte nichts Interessantes zu bieten, Martin schrieb Berichte – besser gesagt: Er diktierte sie. So etwas hatte ich
     noch nicht gesehen, also blieb ich eine ganze Weile bei ihm. Sein Computer hat ein Programm zur Spracherkennung. Inzwischen
     weiß ich ja, was es ist, also kann ich Ihnen das schnell erklären: Man diktiert in einen Kopfhörer, der mit dem Computer verbunden
     ist, und der Computer schreibt das, was man gesprochen hat, selbst auf. Verrückt, oder? Stellen Sie sich eine Tippgemeinschaft
     in einem Büro vor, beim Anwalt oder so. Wo früher die Tippfräulein alle ihre besondere Fingerfertigkeit unter Beweis stellten,
     sitzen die Damen jetzt jede mit einem die Frisur ruinierenden Headset, die Hände liegen faul im Schoß und die Weiber murmeln
     ihre Briefe, Memos, Berichte vor sich hin, der Computer tippt. WAHNSINN!
    Martin jedenfalls laberte seine endlosen Berichte herunter und der Computer schrieb alles fleißig mit. Eine beeindruckende
     Technik. Ein ordentliches Ballerspiel hätte mich natürlich weitaus mehr und länger gefesselt, aber in diesem Büro schien es
     überhaupt niemanden zu geben, der seinen Computer auch nur ansatzweise für interessante Dinge nutzte. Keine Softpornos aus
     dem Internet, keine heißen Chats mit anonymen Vertretern großer Religionsgemeinschaften und eben auch keine Spiele. Nicht
     mal die Harmlosen wie Flugsimulator oder Autorennen. Nur Berichte, Berichte, Berichte. Ich verlor also bald das Interesse
     und gondelte ziellos durch die Büros, vertrieb mir die Zeit und fand dieses passive Dasein inzwischen etwas trostlos. Klar,
     ich konnte mich mal auf dem Damenklo umsehen |59| und den Ladys auf die Unterwäsche glotzen, ohne dass die was merkten. Ich übte ein bisschen Durch-die-Wand-gehen und freute
     mich über den leichten Kitzel, den ich verspürte, als ich durch die Wand in die Teeküche zischte und in der Mikrowelle landete.
     Aber ich konnte mir keinen Kaffee holen, was wegen der beengten Raumsituation vor der Kaffeemaschine sicher recht interessant
     gewesen wäre. Wenn nämlich eine Schnecke in dieser Ecke der Teeküche stand, war ein Ganzkörper-Bodycheck quasi unvermeidlich.
     Der Inneneinrichter der Teeküche musste ein ganz Cleverer gewesen sein. Ich hätte jedenfalls gern mit einigen netten Kittelkätzchen
     vor der Kaffeemaschine herumgedrängelt, aber für mich galt: kein Body, kein Check. Dumm gelaufen! Langsam leerten sich die
     Büros, ich sah immer mal wieder bei Martin rein und irgendwann schaltete auch er seinen Computer aus, griff nach seinem Dufflecoat
     und machte sich auf den Weg in den Keller. Ich natürlich fix hinterher. Unten angekommen tat ich so, als hätte ich den ganzen
     Tag brav im Kühlfach verbracht und sei nun ganz und gar glücklich, dass mich endlich jemand besuchen kam.

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