Kühlfach vier
Martin fiel drauf
rein.
»Martin«, sagte ich in hoffentlich seriösem, sehr ernstem Tonfall, wie ihn öffentlich-rechtliche Nachrichtensprecher gerne
anschlagen. »Wir müssen jetzt mal endlich mit unseren Ermittlungen richtig loslegen, sonst sind alle Spuren kalt und die Wahrheit
über den Mord an mir kommt nie ans Tageslicht.«
Ich war stolz auf die Ernsthaftigkeit meiner Ausführungen und die absolut professionelle Wortwahl. Mindestens genauso stolz
war ich natürlich auf meine Beherrschung, denn ich hatte lange überlegt, bis mir Formulierungen |60| ohne »faule Bullenschweine«, »furunkulöser Rattenarsch von Mörder« und Ähnliches eingefallen waren.
Martin druckste herum, er wand sich wie ein Regenwurm auf der Scherenklinge.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, ob …« Seine hübsch vorformulierte Satzkonstruktion endete hier, aber da ich die Impulse aus
seinem Gehirn deutlich empfangen konnte, erkannte ich zwischen den ausfasernden Gedankensträngen den Rest dessen, was er hatte
sagen wollen: Er glaubte mir von meiner ganzen Geschichte kein einziges Wort.
»Martin, wo liegt das Problem?«, fragte ich, immer noch beherrscht und stolz drauf. Ich benutzte sogar seinen Namen, das haben
Sie ja bemerkt, denn wenn man jemanden immer wieder mit seinem Namen anspricht, dann stellt man eine gewisse Bindung zu ihm
her. Das habe ich mal in einem Film gesehen.
»Alle Untersuchungen deuten darauf hin, dass dein Tod ein Unfall war. Niemand hat gesehen, wie dich jemand gestoßen hat.«
»Martin«, sagte ich wieder, »ob jemand etwas sieht oder nicht, ist doch ganz egal. Sieh mal, wenn ich nicht so ein ordentlicher
Mensch wäre, hätte ich auch die Leiche in dem Kofferraum nicht gesehen.«
»Eine Leiche?«, fragte Martin. »In welchem Kofferraum?«
Jetzt war ich baff. Schnell ging ich im Geiste – mehr ging ja auch gar nicht – unsere bisherigen Unterhaltungen durch und
stellte tatsächlich fest, dass ich Martin die Sache mit dem Autodiebstahl und der Leiche im Kofferraum noch gar nicht erzählt
hatte! Das holte ich jetzt schnellstens nach.
|61| Martin wirkte völlig verstört.
»Siehst du«, versuchte ich, ihn wieder auf die Spur zu setzen, die ich eben gelegt hatte. »Ich habe die Leiche im Kofferraum
nur durch Zufall entdeckt.«
Martin riffelte einfach nicht, was ich ihm damit sagen wollte. Mein Gott, manchmal sind Akademiker wirklich schwer von Begriff.
Ich erklärte es noch mal. »Die Leiche war in dem Kofferraum. Zufällig habe ich hineingesehen und sie entdeckt. Aber die Leiche
wäre auch drin gewesen, wenn ich nicht nachgesehen hätte. Dann hätte sie niemand gesehen, aber sie wäre immer noch da gewesen.«
Jetzt hatte ich mich klar ausgedrückt, wie ich fand, aber Martin druckste immer noch herum: »Aber wenn da tatsächlich eine
Leiche war, müsste sie ja irgendwann hier im Institut auftauchen.«
Ich weiß nicht, was mit Martin los war, aber offenbar hatte er gerne geistige Hänger, sobald die Sache irgendwie mit mir zu
tun hatte. Ich versuchte, es ihm mit einfachen Worten zu erklären.
»Wenn deine Mutter stirbt, würdest du sie in deinen Kofferraum packen?«, fragte ich.
»Natürlich nicht. Da passt sie ja auch gar nicht rein«, erwiderte er.
»Aber du würdest es auch nicht versuchen, oder?«, fragte ich mit einer Engelsgeduld (endlich weiß ich, woher das Wort kommt.
Als ich noch Adrenalin in den Adern hatte …).
»Nein.«
»Was würdest du tun?«
»Den Beerdigungsunternehmer anrufen.«
|62| »AHA!« Wir kamen der Sache langsam näher.
»Was glaubst du also«, formulierte ich vorsichtig weiter. »Was also könnte der Grund dafür sein, dass man eine Leiche in einen
Kofferraum steckt?«
»Sie ist inoffiziell«, sagte er nach einigem Nachdenken.
»Genau!« Ich war erleichtert. Er war doch noch von allein drauf gekommen. »Und zu welchem Zweck steckt man eine inoffizielle
Leiche in den Kofferraum eines fahrbaren Automobils?«
»Um sie irgendwohin zu bringen und dort zu verscharren«, hauchte Martin.
Unfassbar. Der Mann hat täglich mit unnatürlichen Todesfällen zu tun, sieht Leichen, bei deren Anblick sich jedem normalen
Menschen der Magen und auch sonst noch alles Mögliche umdreht, aber wenn es darum geht, sich die Gründe vorzustellen, warum
solche Leichen auf seinem Obduktionstisch landen, wird er blass.
»Genau«, lobte ich ihn. »Die Leiche wird vielleicht niemals auftauchen, das war ja der Sinn der
Weitere Kostenlose Bücher