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Kühlfach vier

Titel: Kühlfach vier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Profijt
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erwartet, aber tatsächlich schämte ich mich
     dafür, ein Jammerlappen zu sein. Immerhin war ich nicht der Einzige, dem es schlecht ergangen war in den letzten Tagen. Die
     Frau, die gerade von Martin die Scheibletten-Behandlung verpasst bekam, war ebenfalls tot. Und sie hatte sogar noch zusätzlichen
     Grund zur Klage. Sie war nicht nur eine tote Frau, sondern eine anonyme Leiche. Keine Sau wusste, wer sie war. Ob sie Familie
     hatte, die benachrichtigt werden sollte. Ob sie verheiratet war, Kinder hatte, die nun Halbwaisen wären. Sie war demjenigen,
     mit dem sie zuletzt zusammengewesen war, so eine Last gewesen, dass er sie anonym verscharren und ihre Angehörigen auf ewig
     im Ungewissen lassen wollte. Dann war sie meinem Autodiebstahl gewissermaßen noch einmal |102| zum Opfer gefallen und wiederum wie Müll entsorgt worden. Menschlicher Müll, der irgendwo abgeladen und von Tieren angefressen
     worden war. Ein übles Ende. Schlimmer als meins. Ehrlich.
    Ich beschloss, sie in meine Ermittlung mit einzubeziehen. Also in die Ermittlungen in meiner Sache, die Martin durchführen
     sollte. Damit war ich wieder am Anfang meiner Überlegungen angekommen: Martin musste mir einfach helfen. Vielleicht konnte
     ich ihn mit der rührseligen Geschichte der anonymen toten Frau zusätzlich aufrütteln. Ich würde es wenigstens versuchen.
    Der Obduktionssaal war inzwischen leer, ich war erleichtert. Vermutlich saß mein fescher Rechtsmediziner inzwischen an seinem
     Schreibtisch, knabberte ein Möhrchen, das tat er nämlich gelegentlich gegen den kleinen Hunger zwischendurch, und schrieb
     wieder irgendwelche langweiligen Berichte. Ich zischte los, ihn zu suchen.
    An seinem Schreibtisch war er nicht, vielleicht … Ich zögerte. Auf seinem Computer war dieses Programm eingeschaltet, mit
     dessen Hilfe er Texte diktieren kann. Ich kannte das Symbol inzwischen gut, das Mikro war nicht komplett ausgeschaltet, sondern
     in der sogenannten Ruheposition. Das heißt, dass man zur Aktivierung einen Sprachbefehl eingibt, und schon kann man wieder
     lossabbeln. Ich begab mich zum Mundstück des Kopfhörers und dachte intensiv: »Mikrofon aktivieren«.
    Nichts passierte. Ich dachte den Befehl noch mehrmals, mal langsamer, mal schneller, aber immer sehr klar und deutlich. Ich
     weiß nicht genau, wie ich es ausdrücken soll, aber ich formulierte ihn sozusagen in Martins Tonlage. Trotzdem tat sich nichts.
     Ich war frustriert. Die viel gerühmten |103| elektromagnetischen Wellen oder Impulse oder weiß der Geier, wie die fiesen, kleinen Dinger heißen, schienen einfach nicht
     das tun zu wollen, was ich wollte, das sie taten. So war das schon im Chemieunterricht gewesen, bei den Physikexperimenten
     auch und von Sport reden wir lieber gar nicht. Vermutlich war die Sache mit dem tiefsitzenden Sportunterrichtstrauma das Einzige,
     was Martin und mich wirklich verband, denn so wie er aussah und sich bewegte, war ich sicher, dass auch er immer als Letzter
     in eine Mannschaft gewählt worden und bei den Bundesjugendspielen nie über mittlere zweistellige Punktzahlen hinausgekommen
     war. Der Unterschied war: Er hatte nicht nur die Schule beendet (das hatte ich immerhin auch), sondern sogar noch ein paar
     Jahre Studium drangehängt, dann noch einige Jahre Facharztausbildung und war jetzt ein geachtetes Mitglied einer akademischen
     Zunft, die für mich immer den anderen Teil der Weltbevölkerung gebildet hatte: die Spießer. Ich hingegen hatte die Lehre geschmissen,
     weil mir der Meister auf den Sack ging und die Ausbildungsvergütung (schon das Wort macht deutlich, dass es hier nicht wirklich
     um Geld, sondern höchstens um Almosen geht) nicht einmal für meine monatlichen Grundbedürfnisse an Alkohol und anderen Drogen
     reichte – von Klamotten, Autos und Ausgaben für Weiber ganz zu schweigen.
    Irgendwie drohte ich schon wieder in Sentimentalitäten abzurutschen. Erst die Mitleidsnummer mit der toten Tussi, jetzt das
     Bedauern eines verpatzten Berufswegs – ob ich auf dem Weg der Erkenntnis war, an dessen Ende die Buße stand – und dann das
     Paradies? Ich rief mich zur Ordnung, riss mich vom Bildschirm los und begab mich auf die Suche nach Martin.
    |104| In der Teeküche wurde ich fündig. Neben Martin stand Katrin, Kollege Jochen mit den alten Stadtplänen war auch da und ein
     Mann im Komplettanzug, also einschließlich Krawatte, den ich bereits als Chef kennengelernt hatte, schlürfte lautstark an
     einer dampfenden

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