Kühlfach vier
in anderer Leute Hirnwindungen wirklich abläuft? Ich hatte ihn jedenfalls
noch nicht von meiner Liste gestrichen.
Und die fette Qualle, mit der meine Extussi neuerdings |96| herummachte? Was wusste ich über den? Nichts, außer dass er schrecklich schwabbelig war. Das hieß noch lange nicht, dass er
nicht auch ein Mörder sein konnte. Dann war er eben ein schwabbeliger Mörder, na und?
Tatsache war, dass ich weiterhin keinen Schimmer hatte, wer mich von der Brücke auf den Bürgersteig und damit vom Leben zum
Tode befördert hatte, und die leichte Verstimmung, die zwischen Martin und mir herrschte, half bei der Aufklärung des Verbrechens
sicher nicht weiter. Ich musste also dafür sorgen, dass er wieder in ganzen Sätzen mit mir sprach und nicht nur in Aufforderungen
zweifelhafter Freundlichkeit wie zum Beispiel: »Halt’s Maul«.
Ich geisterte durch die Büros und Teeküchen auf der Suche nach ihm, fand ihn aber nirgends. Es stand zu befürchten, dass er
im Sektionssaal stand und Leichen zerlegte. Eigentlich hatte ich es ja nicht so mit der Schnippelei, aber andererseits war
ich recht unruhig und wollte mich möglichst bald wieder mit Martin vertragen. Also düste ich rüber.
Mit den Hauben und dem Mundschutz und den Kitteln sehen sich die Figuren an den Stahltischen ziemlich ähnlich, aber Martins
pummelige Figur war leicht zu erkennen, und seine Gehirnimpulse lotsten mich endgültig zum richtigen Tisch. Ich bemühte mich,
die Leiche, die darauf lag, gar nicht zu beachten.
»Hallo Martin«, sagte ich.
»Ich bin sehr beschäftigt«, sagten mir Martins Gedanken, während er das Skalpell mit geübter Präzision handhabte. Auf der
anderen Seite des Tisches stand eine vermummte Gestalt, die alle Erkenntnisse in ein Diktiergerät |97| quatschte. Das Gelaber lenkte mich ein bisschen ab, aber ich gab mir Mühe, mich auf Martin zu konzentrieren.
»Es tut mir leid wegen gestern Abend«, sagte ich. Das konnte man als Entschuldigung verstehen, vielleicht sogar als Eingeständnis
von Schuld, obwohl es natürlich nichts von beidem sein sollte. Ich hoffte einfach, dass Martin einlenkte.
»Das will ich auch hoffen«, kam stattdessen.
So viel zu meiner Hoffnung auf eine schmerzfreie Versöhnung. Offenbar mussten schwerere Geschütze her.
»Du hast dich wirklich gut gehalten gestern Abend«, begann ich. »Dass da zwei Schläger nur darauf warten, deine Autoscheibe
einzuschlagen, damit hätte ich nie gerechnet.«
Martin machte »Hm« und hielt seine Aufmerksamkeit ansonsten strikt auf die Leiche gerichtet.
»Es tut mir wirklich leid und ich möchte mich dafür entschuldigen, dass du mit solchen Typen in Kontakt kommst und dein Auto
beschädigt wurde. Alles wegen mir.«
Jetzt hatte ich deutlich mehr Schuld eingestanden, als ich mir vorgenommen hatte, aber Martin war heute wirklich sehr abweisend.
Langsam wurde ich sauer. Er sollte gefälligst meine Entschuldigung annehmen und aufhören, die beleidigte Leberwurst zu spielen.
Blödmann.
»Ich muss mich hier konzentrieren«, sagte Martin.
Eine glatte Abfuhr. Wie ich so etwas schon zu Lebzeiten gehasst habe. Mein Vater konnte das besonders gut. Man kommt mit einer
total wichtigen Sache, die keinen Aufschub duldet, zu jemandem hin, und der sagt lediglich dreimal »Hm« und, dass er gerade
jetzt keine Zeit hat. Ist echt zum Kotzen. Deshalb musste ich ja damals von zu Hause |98| weg. Jetzt fing Martin auch noch so an. Meine Geduld wurde mal wieder auf eine harte Probe gestellt.
»Martin«, rief ich, um endlich seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. »Martin, ich bin verzweifelt!«
So, dachte ich, jetzt muss er aber wirklich reagieren. Ein Mensch wie er kann doch sein Herz nicht gegen diese Art von Hilfeschrei
verschließen. Dachte ich.
Falsch gedacht. Er rührte sich überhaupt nicht.
Ich kreiselte ein paarmal um mich selbst, um meine Wut abzulassen und ihm nicht einen Impuls zur sofortigen Zerstörung sämtlicher
Hirnwindungen in die Birne zu ballern. Dabei passierte genau das, was ich die ganze Zeit krampfhaft vermieden hatte: Mein
Blick fiel auf die Leiche, die sich unter Martins Händen gerade in Gammelfleischgyros verwandelte. Ich schrie auf.
Die Tätowierung an den Fußgelenken hatte ich völlig verdrängt, aber als ich sie jetzt sah, erinnerte ich mich.
»Das ist sie!«, schrie ich. »Martin, das ist die Frau aus dem SLR!«
Jetzt hatte ich ihn. Seine Aufmerksamkeit war ganz mein. Er klappte das Gesicht der Frau wieder
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