Kühlfach vier
bedrückend aus.«
»Ein Drecksloch«, korrigierte mein Vater.
Martin war peinlich berührt, er wusste nicht, was er dazu sagen sollte.
»Es war eine Übergangslösung«, sagte er schließlich.
»Auf dem Weg in die Obdachlosigkeit«, sagte mein Vater. »Er hat seine Lehre geschmissen.«
Und Einstein ist von der Schule geflogen, hatte ich damals immer erwidert, bevor er mich zu Hause rausgeschmissen hatte. »Wer
seine Füße unter meinen Tisch stellt, geht in die Lehre«, waren seine Worte gewesen.
»Der Meister hackt immer auf mir rum«, sagte ich.
»Dann wird er einen Grund dafür haben«, sagte mein Vater.
Den hatte er natürlich gehabt. Er war neidisch. Ich war der beste Freak, der jemals in diesem Schuppen gearbeitet hat. Ich
brauchte einen Motor nur zu hören, um zu wissen, was damit los war. Fehlerausleseprogramme, Inspektionschecklisten, alles
Kinderkram. Ich drehte den Schlüssel und wusste, was Sache ist. Außerdem konnte ich jeden Wagen innerhalb von dreißig Sekunden
knacken. Ich wurde nach nur drei Wochen Lehrzeit rausgeschickt, wenn ein Kunde seinen Schlüssel verloren hatte. Ich. Nicht
der Meister |148| . Der fühlte sich in seiner Freiheit beschränkt, denn, was ich damals nicht wusste, er ging vögeln, sobald er vom Hof war.
Deshalb hatten die Einsätze immer so lang gedauert. Weil er mindestens acht Häschen am Start hatte, die offenbar alle nur
darauf warteten, dass wieder irgendein Yuppie zusammen mit dem Burgerpapier auch die Autoschlüssel in die Tonne kloppte. Schon
raste der Meister los, half dem Yuppie und einem der notgeilen Mäuschen gleich hinterher.
Und dann kam ich. Konnte Autos knacken wie ein Weltmeister und war nach spätestens dreißig Minuten wieder da. Gefiel dem Chef,
missfiel dem Meister. Von da an war jeder Tag ein Spießrutenlaufen.
Von der mageren Kohle ganz abgesehen. Wenn ich für – sagen wir mal – dritte Auftraggeber die Autotür-Notöffnungsnummer abzog,
sprang deutlich mehr heraus. Und der Stress mit meinem Alten zu Hause ging mir natürlich auch auf den Sack. Irgendwann hatte
ich einfach die Schnauze voll, hab die Lehre geschmissen und flog zu Hause raus. Das war vor vier Jahren. Meine Mutter hat
nicht versucht, Kontakt zu mir aufzunehmen, vermutlich weil mein Vater es ihr verboten hat. So war das bei uns.
Meine Sättigungsschwelle war wieder mal erreicht. Mein Vater kotzte mich an, meine Mutter tat mir zwar irgendwie leid, aber
gleichzeitig verachtete ich sie. Welche Mutter lässt sich den Kontakt zu ihrem einzigen Kind verbieten? Ich wollte mit den
beiden nichts mehr zu tun haben. »Martin, hör auf die Leute anzulügen und wende dich wichtigeren Dingen zu«, sagte ich.
Martin verabschiedete sich von meinen Eltern und ging langsam Richtung Ausgang.
|149| »Schräg rechts hinter dir steht ein Mädchen«, sagte ich und Martin drehte sich ruckartig um.
»Sie heißt Miriam – oder so.«
»Wer ist das?«, fragte Martin.
»Die Schwester von einem ehemaligen Kumpel«, sagte ich. »Ich will wissen, was sie hier auf meiner Beerdigung zu suchen hat.«
»Du meinst doch wohl nicht, dass ich einfach zu ihr hinübergehe und sie das frage?«, sagte Martin.
»Na klar, Mann«, erwiderte ich. »Es muss einen besonderen Grund haben, denn ich kannte sie kaum. Vielleicht hat das was mit
der Ursache für meine Ermordung zu tun.«
Martin zögerte. Ihm war das alles hier furchtbar peinlich, das konnte ich deutlich spüren.
»Na los«, fordert ich noch einmal, und er gab nach.
Sie stand immer noch weit von dem Grab entfernt, von meinem Grab, um genau zu sein, und sie hatte, das konnten wir sehen,
als wir näher kamen, Tränen in den Augen. Nanu.
»Guten Tag, ich heiße Martin Gänsewein.«
Sie hatte eine super Beherrschung, fing nicht an zu kichern oder zu grinsen oder so, sondern nickte ihm nur einfach zu.
»Kannten Sie ihn gut?«, fragte Martin.
Miriam, von der ich immer noch hoffte, dass sie Miriam hieß, denn sie hatte sich ja nicht vorgestellt, schniefte. Und schüttelte
den Kopf.
»Ich schon«, sagte Martin. »Er hat mir von Ihnen erzählt.«
Die Tränenflut verdoppelte sich.
|150| »Sie sind die Schwester von dem Künstler, nicht?«
»Künstler?« Sie sah ihn an, als hätte er ihr gerade erklärt, dass ein großer, grüner Pilz auf ihrem Scheitel wuchs. »Er hat
Tabbi als Künstler bezeichnet?«
Martin war durch ihren völlig entgeisterten Gesichtsausdruck etwas irritiert und ich war irritiert, weil er offenbar
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