Kühlfach vier
hemmungslos
schluchzte. Die anderen guckten betreten oder gelangweilt, nur die Grundschullehrerin zeigte ein Pokerface, und Martin sah
traurig aus. Richtig traurig. Ich vermied es, mich mit seinen trübsinnigen Gedanken zu befassen.
Die Friedhofsbesucher, an denen der Trauerzug vorbeikam, senkten die Köpfe und taten so, als ob sie diesem Neuzugang einen
Moment der Andacht widmeten, und vielleicht taten einige das sogar – die meisten dachten sicher nur: Gut, dass es mich nicht
erwischt hat.
Da außer dem Geschlurfe gerade nichts Spannendes passierte, wanderte mein Blick ein bisschen hin und her, und da sah ich sie.
Miriam. Glaubte ich. Ganz sicher war ich mir nicht wegen ihres Namens. Aber ich hatte sie zweifelsfrei erkannt. Sie war die
kleine Schwester von Tabbi. Tabbi hieß so, weil er wie diese Fernsehbabys sprach. Irgendein komisches Kauderwelsch, das hauptsächlich
aus Geräuschen bestand. Er hatte einen ernsthaften Sprachfehler, aber er war der geilste Autolackierer diesseits von Santa
Fe. Er zauberte fantastische Welten, Fabelwesen |145| oder brennend heiße Weiber auf Autos und Lkws. Entweder nach Vorlage oder frei, ganz wie der Kunde es wünschte. Er hatte einen
Truck mit der kompletten Besatzung von Raumschiff Enterprise versehen. Um dieses Geschoss herum hatten sich seitdem jede Menge
Unfälle ereignet, weil die Autofahrer sich die Hälse verdrehten nach Captain Kirk, Spock, Pille und den anderen. Ja, er malte
nur die Originalbesatzung. Und Tabbi hatte eine kleine Schwester, die von uns natürlich nie beachtet worden war. Kleine Schwestern
sind wie Masern, Mumps oder Scharlach. Im Frühstadium beachtet sie keiner und später muss man damit ins Bett. Miriam – oder
wie immer sie wirklich hieß – war noch im Frühstadium gewesen. Was, zum heiligen Kühlergrill, wollte sie hier?
Ich hatte mich von ihr ablenken lassen und somit das Ende des Trauerzugs an der Grube verpasst. Als ich nun Martin suchte,
standen schon alle am Loch, der Sarg schwebte auf zwei Holzbohlen darüber. Sah echt scheiße aus, fand ich.
Der Pfaffe redete noch ein paar Worte, dann traten die starken Jungs ans Grab und senkten den Sarg in das kalte, dunkle Loch.
Meine Mutter schluchzte jetzt lauter, sie warf ein paar Rosen auf den Sarg, dann zog mein Vater sie zur Seite. Die anderen
Trauernden traten einer nach dem anderen vor, Sie kennen das sicher, ich muss das hier nicht in epischer Breite wiedergeben.
Alle gaben meinen Eltern die Hand, gingen ein paar Schritte zur Seite und standen dort herum. Dann ging Martin zu meinen Eltern.
Martin?!?
»Hey«, rief ich. »Was soll denn das?«
Martin ließ sich nicht beirren.
|146| »Mein Beileid«, sagte er, als er meinem Vater die Hand schüttelte.
»Danke«, sagte mein Vater und sah ihn dann aufmerksam an. »Entschuldigung, ich glaube, wir kennen uns nicht.«
»Nein«, bestätigte Martin. »Aber ich kenne, ähem, kannte Ihren Sohn.«
»Martin, lass den Scheiß«, sagte ich, echt genervt. »Was willst du denen schon sagen? Dass ich im Keller eures Instituts hause
und dir auf den Sack gehe?«
»Woher kannten Sie ihn denn?«, fragte meine Mutter unter Schluchzen.
»Ich, ähem, er hat mir mal einen Tipp gegeben in einem Mordfall, den ich untersucht habe«, sagte Martin.
»In einem Mordfall?«, sagte mein Vater. »Ja, der Junge ist tief gesunken. Hat sich mit den falschen Leuten herumgetrieben.«
»Nein, nein«, beeilte sich mein Gutmensch zu versichern. »Er hat nur einen Hinweis gegeben. Er hatte gar nichts damit zu tun.«
Nette Formulierung, wenn er von dem Fall sprach, in dem ich die Hauptrolle übernommen hatte, denn in meiner Erinnerung fand
ich beim besten Willen keinen anderen Fall, in dem ich ihm einen wertvollen Hinweis gegeben hätte.
»Dann sind Sie von der Polizei?«, fragte mein Vater.
»Von der medizinischen Abteilung«, sagte Martin. Ich hatte den Eindruck, dass er diesen Begriff nicht zum ersten Mal benutzte.
»Wie ging es ihm denn?«, fragte Mutter. »Ging es ihm gut?«
|147| »Ja, es ging ihm gut«, sagte Martin, aber ich spürte, dass die Frage ihn etwas aus der Spur warf. Tatsächlich hatte er überhaupt
keine Ahnung, wie es mir ging oder, besser gesagt, gegangen war. Er hatte mich nie gefragt, wie ich gelebt hatte. Oder wo.
Was mich zu der Überlegung brachte, was eigentlich aus meiner Wohnung würde.
»Was wird aus meiner Wohnung?«, fragte ich.
»Seine Wohnung sah so …«, meine Mutter suchte nach Worten. »So
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