Kühlfach vier
egal. Jedenfalls war sie hier, und das fand ich ganz
extrem seltsam. Ob sie damals auch etwas für mich empfunden hatte? Aber dann musste sie ganz schön schwer gestört sein. Immerhin
war ich zehn Jahre alt gewesen und hatte nur ungefähr sieben Zähne im Mund gehabt, als wir uns das letzte Mal sahen.
|142| Meine Mutter hatte sich in den vier Jahren, in denen ich sie nicht gesehen hatte, kaum verändert. Warum auch. Die Frisur trug
sie seit Mitte der Siebziger, ja, genauso sah sie auch aus. Durch die Körperfülle war die Gesichtshaut noch relativ straff,
das ist ja der Vorteil von Fettpolstern: Sie lassen keine Falten entstehen. Ihre Beine steckten in dicken, schwarzen Strümpfen,
die die fehlende Verjüngung an den Fesseln zwar weniger deutlich werden ließen als die fleischfarbenen Strümpfe, die sie sonst
trug, aber ihre Beine waren immer noch die hässlichsten Beine, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Katastrophal für
jemanden, der nie Hosen trug. Für die Beine meiner Mutter hatte ich mich schon geschämt, als ich sie noch brauchte, um mich
daran aufzurichten. Meine Mutter sah aus wie eine Metzgersfrau vom Land und irgendwie war sie das auch. Ihr Vater war Metzger
gewesen, ihr Mann war einer – zumindest gewesen, bis er zum Wurstfabrikanten wurde, der Geld damit verdiente, gehäckselte
Schlachtabfälle in Kunstdärme zu stecken und an Menschen zu verkaufen, die glaubten, in der Schinkenwurst sei Schinken drin.
Hatte ich schon erwähnt, dass ich einige Jahre lang nur Fleisch gegessen habe, das man als etwas Zusammenhängendes erkennen
kann? Also Schnitzel und Steak. Aber das war noch zu Hause, da kam immer nur das Beste auf den Tisch. Später bin ich aus Geldmangel
wieder zu Gehäckseltem übergegangen. Ob als Frikadelle zwischen Brotpappe oder in Wurst mit Curry, ist dann letztlich auch
egal.
Mein Vater machte neben seiner Metzgersgattin äußerlich die bessere Figur. Gebräunt, höchstens ein ganz kleines bisschen übergewichtig,
mit modisch kurzem Haar, modisch randloser Brille und modisch geschnittenem schwarzem |143| Mantel. Seine nicht ganz so modischen Ohrfeigen, die es setzte, wenn der Bengel nicht spurte, hätte man ihm nicht zugetraut.
Die kurzen Blicke, die mein Vater über die Schulter mit meiner Grundschullehrerin tauschte, erklärten auch ihre Anwesenheit.
Ziemlich dreist, die Geliebte zur Beerdigung des einzigen Sohnes mitzubringen – aber Stil hatte er noch nie besessen. Und
meine Mutter nie die Durchsetzungskraft, um ihm Paroli zu bieten. Sie hat von seinen Affären gewusst, aber heile Welt gespielt.
Vor mir, vor der Nachbarschaft und ihrer Familie. Vor meinem Vater hat sie gekuscht. Er gab ihr Haushaltsgeld, er bestimmte,
was auf den Tisch kam, er legte die Urlaubsziele fest. Oft genug solche, an denen es vor willigen Weibern wimmelte. Mutter
tat so, als bemerke sie nichts, und schrieb Ansichtskarten von herrlichen Stränden und netten Menschen. Ihr ganzer Halt war
ich und damit war ich leider überfordert. Von ihrer Liebe genauso wie von seinen Erwartungen. Beides hatte mich erdrückt,
beides hatte jetzt, hier vor meinem Sarg, jeglichen Bezugspunkt verloren. Wäre ich sentimental veranlagt, würde ich jetzt
faseln, dass auf dieser Beerdigung mehr als nur ein Leben zu Grabe getragen wurde.
Die Beschreibung der weiteren Gäste und des bulimischen Priesters, der die Andacht hielt, erspare ich Ihnen und mir. Der Geistliche
tat so, als hätte er mich gekannt und gemocht, aber das ist wohl sein Job. Auch hörte sich mein Leben aus seinem Mund so viel
familiärer, erfolgreicher und konformer an, als ich es je empfunden hatte, aber vielleicht lag der Fehler ja bei mir.
Jetzt haben Sie vielleicht bemerkt, dass ich viel über andere gelästert, mich um das eigentliche Thema aber bisher |144| herumgedrückt habe. Meinen Sarg. Er war grandios. Schwarz. Brillant-schwarz. Wie ein Konzertflügel in den philharmonischen
Sälen dieser Welt. Mit roten Rosen darauf. Die Farbe der Liebe. Oder von Ferrari. Oder von Pamela Andersons Bikini. Es sah
einfach geil aus.
Der Priester kam endlich zum Schluss der Andacht, dröhnte »… und schenke ihm das Ewige Leben«, Martin zuckte zusammen, und
dann erklang blecherne Orgelmusik aus einem Ghettoblaster. Ein paar Männer rückten an, schnappten sich den Karren mit dem
Sarg drauf, schoben ihn aus der Kapelle und alle Trauernden zuckelten hinterher. Mein Vater stützte meine Mutter, die
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