Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kühlfach vier

Titel: Kühlfach vier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Profijt
Vom Netzwerk:
hätte uns für ein altes Ehepaar halten können, wie wir so jeder
     in seine Gedanken versunken zu meiner Beerdigung fuhren.
    Der Friedhof sah aus, wie Friedhöfe im Winter eben aussehen. Die großen Bäume, die im Frühjahr sicher einen freundlichen,
     beruhigenden Grünschimmer über die Gräber werfen, waren kahl und sahen entsprechend scheiße aus. Ich habe nie etwas für kahle
     Bäume übriggehabt. Nicht mit und nicht ohne Schneehäubchen, in Sonne oder Nebel, ich finde, sie sehen einfach tot aus.
    Die breiten Friedhofswege waren matschig, auf vielen Gräbern standen Laternen, in denen diese fürchterlichen Kerzen in ihren
     roten Plastikbechern brannten. Im Dunklen sieht es immer so aus, als ob es auf den Friedhöfen spukt, weil überall diese Lämpchen
     vor sich hin flackern.
    Ich kannte diesen Friedhof, weil hier auch meine Oma lag und meine Eltern früher mindestens zweimal im Jahr, nämlich zu Omas
     Geburtstag und an irgendeinem trüben Tag im November, hierhergekommen waren, so ein flackerndes Lämpchen angezündet hatten,
     eine Zeit lang so getan hatten, als ob sie beteten, und dann wieder nach Hause gefahren waren und sich den Kuchen reingeschaufelt
     hatten. Ich musste mit, bis ich zwölf war, danach ging auch mein Vater nicht mehr. Bis wann meine Mutter diese Tradition gepflegt
     hat, weiß ich nicht. Demnächst konnte sie hier |140| gleich zwei Gräber besuchen. Mein Geburtstag ist übrigens im November, vielleicht kann sie die Novemberbesuche gleich zusammen
     erledigen. Ist praktischer.
    Martin fand den Weg zur Friedhofskapelle, ohne sich zu verlaufen, obwohl für meinen Geschmack die Wege alle gleich aussahen.
     Ich hatte nie gewusst, ob ich den dritten oder den vierten Querweg nehmen musste, Martin wusste es. Er war halt präzise –
     wie immer.
    Vor der Kapelle stand ein Schild, auf dem mein Name und die Uhrzeit der Beerdigungsandacht stand. Mein Name. Das mulmige Gefühl
     verstärkte sich. Langsam wurde es ernst.
    Auch Martin schluckte, dabei hatte er mich doch zu Lebzeiten gar nicht gekannt. Und dass ich jetzt nicht tot war, wusste er.
     Komische Sache. Sollte man da jetzt traurig sein, dass der Körper tot ist, oder glücklich, dass der Geist lebt? Aber ist ein
     Leben wie meins, in dem ich nur einen sehr begrenzten Aktionsradius habe, wirklich tröstlich? Ich spürte, dass Martin sich
     mit diesen Gedanken herumquälte, und ich konnte ihm bei der Beantwortung der Fragen nicht helfen. Zumal ich die Alternative
     nicht kannte. Würde tot bedeuten, dass mein Geist auch einfach aufhört zu existieren? Oder würde er woanders existieren, wo
     auch andere Geister herumschwirren? Könnten wir miteinander reden, uns verarschen, Witze erzählen? Das Geschehen auf der Erde
     weiterverfolgen? Wetten abschließen? Mit welchem Einsatz? Niemals hatte ich mir im Leben solche Gedanken gemacht, aber jetzt,
     angesichts der speziellen Situation, drängten sie sich natürlich auf wie ein Lippenherpes nach einem nassen Kuss.
    Ja, das war es. Ich musste etwas geistigen Abstand gewinnen |141| . Musste an etwas Schönes denken oder einfach an die raue Wirklichkeit, statt hier in religiösen, philosophischen oder sonstigen
     Sentimentalitäten abzusaufen. Diese Beerdigung änderte nichts an meiner aktuellen Situation. Ob mein Körper im Kühlfach lag
     oder in einer Kiste in der Erde, sollte mir, verdammt noch eins, egal sein.
    Martin trat in das Halbdunkel der Kapelle und setzte sich in die vorletzte Bank. Ich blieb einen Moment bei ihm, konnte aber
     so die Anwesenden natürlich nur von hinten sehen. Doof. Also zog ich los, schön dezent an der Wand vorbei nach vorn. In der
     ersten Bank saßen meine Eltern, dahinter ein paar Tanten und Onkel, die ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte.
     Zwei Nachbarinnen meiner Eltern, die offenbar sonst nichts Besseres zu tun hatten oder ihre schwarzen Mäntel mal wieder ausführen
     wollten. Und meine Grundschullehrerin. Wow! An die hatte ich seit ewigen Zeiten nicht mehr gedacht. Damals hatte ich sie angehimmelt.
     Sie war die coolste Lehrerin der Schule gewesen. Blondiert, ledig, Raucherin. Alle Jungs aus der Klasse wollten sie heiraten.
     Ich hatte sie damals für blutjung und gut aussehend gehalten und seitdem waren gerade eineinhalb Jahrzehnte vergangen. Jetzt
     kam sie mir alt und schabrackig vor. Immer noch blond, immer noch Raucherin, wie die gelben Nikotinfinger vermuten ließen,
     ob verheiratet oder nicht, konnte ich nicht sehen. War ja jetzt auch

Weitere Kostenlose Bücher