Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
die Absendeorte der Geldüberweisungen in den Hohen Norden an die Adressatin – bezeichneten Eisenbahnstationen in der Nähe von Mariupol, in nördlicher Richtung, und kamen nie zweimal vor. Die Fahndung musste sich jetzt nicht mehr groß anstrengen – die Namen der Menschen feststellen, die sich in den letzten zwei Jahren in Mariupol angesiedelt hatten, die Photographien vergleichen …
So wurde Pawel Michajlowitsch Kriwoschej verhaftet. Seine Frau war ihm eine mutige und treue Helferin. Sie brachte ihm nach Arkagala Papiere und Geld – mehr als fünfzigtausend Rubel.
Kaum war Kriwoschej verhaftet, wurde ihr sofort die Ausreise gestattet. Moralisch wie physisch erschöpft, verließ Angelina Grigorjewna die Kolyma gleich mit dem ersten Dampfer.
Kriwoschej selbst verbüßte auch die zweite Haftzeit – er leitete das Chemielabor im Zentralkrankenhaus für Häftlinge, genoss kleine Vergünstigungen seitens der Leitung und verachtete und fürchtete die »Politischen« wie früher, war extrem zurückhaltend in den eigenen Äußerungen und empfindlich feige vor den Worten Fremder … Diese Feigheit und äußerste Zurückhaltung hatte jedoch eine andere Grundlage als bei einem gewöhnlichen ordinären Feigling. Kriwoschej war all das fremd, alles »Politische« interessierte ihn absolut nicht, und weil er wusste, dass eben diese Sorte Verbrechen im Lager am teuersten bezahlt wird, wollte er seine so kostbare alltägliche, materielle – und keineswegs geistige – Ruhe nicht opfern.
Kriwoschej wohnte auch im Labor und nicht in der Lagerbaracke – privilegierten Häftlingen wurde das erlaubt.
Hinter den Schränken mit den Säuren und Laugen nistete sein Bett, ein dienstliches, sauberes. Es ging das Gerücht, dass er in seiner Höhle ein irgendwie besonderes ausschweifendes Leben führe und dass sogar die Irkutsker Prostituierte Sonetschka, »zu jeder Gemeinheit« fähig, von den entsprechenden Fähigkeiten und Kenntnissen Pawel Michajlowitschs beeindruckt war. Aber all das konnte auch die Unwahrheit sein, Lager»klatsch«.
Es gab unter den Freien nicht wenige Damen, die mit Pawel Michajlowitsch, einem blühenden Mann, gern einen »Roman« begonnen hätten. Aber der Häftling Kriwoschej, vorsichtig und entschlossen, durchkreuzte alle großzügig an ihn herangetragenen Avancen. Er wollte keine gesetzwidrigen, zu riskanten, mit zu hoher Strafe bedrohten Verbindungen. Er wollte Ruhe.
Pawel Michajlowitsch erhielt akkurat alle Anrechnungen, wie gering sie auch seien, und nach ein paar Jahren wurde er ohne das Recht auf Ausreise von der Kolyma freigelassen. Das störte Pawel Michajlowitsch übrigens nicht im Geringsten. Am Tag nach seiner Freilassung stellte sich heraus, dass er einen hervorragenden Anzug besaß, und einen Mantel von irgendeinem ausländischen Schnitt, und einen Velourhut von guter Qualität.
In einem der Werke fand er Arbeit in seinem Beruf als Chemie-Ingenieur – er war tatsächlich ein »hochkarätiger« Spezialist. Nach einer Woche Arbeit nahm er Urlaub »aus familiären Gründen«, wie es im Antrag hieß.
»???«
»Ich fahre mir eine Frau holen«, sagte Kriwoschej und lächelte ein wenig. »Eine Frau!.. Auf den Brautmarkt in die Sowchose ›Elgen‹. Ich möchte heiraten.«
Am selben Abend kam er mit einer Frau zurück.
Bei der Sowchose »Elgen«, einer Frauensowchose, gibt es eine Tankstelle – am Rand der Siedlung, in der »Natur«. Rundherum, gleich neben den Benzinfässern, ein paar Weiden- und Erlenbüsche. Hier versammeln sich jeden Abend alle freigelassenen Frauen von »Elgen«. Ebenfalls hierher kommen im Auto die »Bräutigame« – ehemalige Häftlinge, die eine Freundin ihres Lebens suchen. Die Brautwerbung dauert nicht lange – wie alles an der Kolyma (bis auf die Lagerhaft), und die Autos fahren mit den Neuvermählten zurück. Eine genauere Bekanntschaft findet bei Bedarf im Gebüsch statt – das Gebüsch ist dicht genug, groß genug.
Im Winter wird all das in private Wohnungen und Hütten verlegt. In den Wintermonaten braucht die Brautschau natürlich viel mehr Zeit als im Sommer.
»Und was ist mit Angelina Grigorjewna?«
»Ich habe jetzt keinen Briefkontakt zu ihr.«
Ob das die Wahrheit war oder nicht, brauchte man nicht zu fragen. Kriwoschej hätte mit dem großartigen Lagersprichwort antworten können: wenn du es nicht glaubst, nimms als Märchen!
Irgendwann in den zwanziger Jahren, im »Morgendämmer der Jugend« der Lagereinrichtungen, in den wenigen Zonen, die sich
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