Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Konzentrationslager nannten, wurden Fluchten überhaupt nicht mit einer zusätzlichen Haftzeit bestraft und galten quasi nicht als Verbrechen. Es schien natürlich, dass ein Inhaftierter, ein Häftling fliehen und die Wache ihn fangen muss, und dass das vollkommen klare und berechtigte Beziehungen zwischen zwei Gruppen von Menschen sind, die auf den verschiedenen Seiten des Gefängnisgitters stehen und durch dieses Gitter miteinander vereint sind. Das waren romantische Zeiten, als, mit einem Wort von Musset, »die Zukunft noch nicht angefangen hatte und die Vergangenheit nicht mehr existierte«. Gestern erst war Ataman Krasnow auf sein Ehrenwort aus der Gefangenschaft entlassen worden. Und das Wichtigste – das war eine Zeit, als die Grenzen der Geduld des russischen Menschen noch nicht auf die Probe gestellt, noch nicht ins Unendliche erweitert wurden, wie das in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre geschah.
Noch nicht entworfen, noch ungeschrieben war das Gesetzbuch von 1926 mit seinem berüchtigten Artikel 16 (»entsprechende Verbrechen«) und Artikel 35, der eine ganze soziale Gruppe markierte: die »Fünfunddreißiger«.
Die ersten Lager wurden auf unsicherer juristischer Grundlage eröffnet. Hier gab es viel Improvisation und folglich auch das, was man lokale Willkür nennt. Der bekannte Kurilka von den Solowezker-Inseln, der die Häftlinge in der Tajga nackt auf Baumstümpfe stellte – »den Mücken auslieferte«, war natürlich ein Empiriker. Die Empirie des Lagerlebens und der Lagerordnung war blutig – denn man experimentierte mit Menschen, mit lebendigem Material. Die oberste Leitung konnte das Experiment eines Kurilka billigen, und dann ging sein Handeln in die Lager-Gebote, in die Instruktionen, in die Anordungen, in die Richtlinien ein. Oder das Experiment wurde verurteilt, und dann kam Kurilka selbst vor Gericht. Übrigens gab es damals keine langen Haftzeiten – in der gesamten 4. Abteilung von Solowki gab es zwei Häftlinge mit zehn Jahren Haftdauer, auf sie wurde mit Fingern gezeigt wie auf Berühmtheiten. Einer war der ehemalige Gendarmeriehauptmann Rudenko, der andere Mardshanow, ein Kappel -Offizier. Fünf Jahre Haftzeit galten als lang, und zwei- oder dreijährige Urteile machten die Mehrzahl aus.
Und in eben diesen Jahren, bis Anfang der dreißiger Jahre – wurde eine Flucht überhaupt nicht bestraft. Bist du geflohen – Glück gehabt, haben sie dich lebendig gefangen – noch einmal Glück gehabt. Lebendig gefangen wurde nicht oft – der Geschmack von menschlichem Blut entzündete den Hass der Begleitposten auf die Häftlinge. Der Häftling fürchtete um sein Leben, besonders bei Märschen, bei Etappen, auf denen ihn schon ein unvorsichtiges Wort, das er dem Begleitposten sagt, ins Jenseits, »auf den Mond« befördern konnte. Auf den Etappen gelten strengere Regeln, und den Begleitposten lässt man vieles durchgehen. Bei Märschen von Außenstelle zu Außenstelle forderten die Häftlinge von der Leitung, ihnen für den Weg die Hände auf dem Rücken zu binden, weil sie darin eine gewisse Garantie für ihr Leben sahen und hofften, dann nicht einfach »gestrichen«, mit dem sakramentalen Eintrag in ihr Formular abgefertigt zu werden: »bei Fluchtversuch getötet«.
Die Untersuchungen wurden bei solchen Morden immer nachlässig geführt, und wenn der Mörder so scharfsinnig war, einen zweiten Schuss in die Luft abzugeben, endete die Sache für den Begleitposten immer glücklich – die Instruktionen verlangen einen Warnschuss vor dem gezielten Schuss auf den Flüchtigen.
An der Wischera, in der vierten Abteilung der SLON – der Ural-Filiale der Solowezker Lager –, empfing die aufgegriffenen Flüchtigen der Direktionskommandant Nesterow; ein stämmiger Mann, untersetzt, mit langen weißen Händen und kurzen, dicken, dicht mit schwarzen Haaren bewachsenen Fingern; man meinte, dass auch auf seinen Handflächen Haare wüchsen.
Die Flüchtigen, schmutzig, hungrig, verprügelt und müde, von Kopf bis Fuß mit grauem Straßenstaub bedeckt, wurden Nesterow vor die Füße geworfen.
»Na, komm, komm näher.«
Der Angesprochene kam.
»Du wolltest also einen Spaziergang machen! Sehr gut, sehr gut!«
»Verzeihen Sie bitte, Iwan Spiridonytsch.«
»Ich verzeihe«, sagte Nesterow melodisch und feierlich, er stand von der Vortreppe auf. »Ich verzeihe ja. Der Staat verzeiht nicht …«
Die blauen Augen trübten sich, die roten Fäden der Adern traten hervor. Aber seine Stimme war noch
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