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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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geringe Zahl von Personen bedenkt, die an ihrer Organisation beteiligt waren. Darin lag auch das Unterpfand des Erfolgs des gesamten Unternehmens.
    Diese Flucht ist bemerkenswert auch darum, weil hier ein einzelner Mensch den direkten Kampf gegen den Staat angetreten hat – gegen Tausende mit Gewehren bewaffnete Leute, im Gebiet der Tscheldonen und Jakuten, die daran gewöhnt waren, für jeden Flüchtigen ein halbes Pud Weißmehl zu erhalten – das war der Tarif der Zarenzeit, der auch später bestätigt wurde; dieser Einzelne, der zu Recht in jedem, der ihm begegnete, einen Denunzianten oder Feigling sehen musste – er kämpfte, schlug sich und – siegte!
    Wo aber, worin lag der Fehler, der seine glänzend erdachte und großartig ausgeführte Sache ruinierte?
    Seine Frau wurde im Norden festgehalten. Man erlaubte ihr nicht, aufs Festland auszureisen – die Papiere dazu gab dieselbe Dienststelle aus, die mit den Angelegenheiten ihres Mannes befasst war. Übrigens hatte sie das vorausgesehen, und sie stellte sich aufs Warten ein. Monat um Monat verging – die Anträge wurden abgelehnt, wie immer, ohne Angabe von Gründen für die Ablehnung. Sie machte einen Versuch, vom anderen Ende der Kolyma auszureisen – mit dem Flugzeug über dieselben Tajgaflüsse und -schluchten, denen einige Monate zuvor ihr Mann gefolgt war, doch auch dort erwartete sie natürlich eine Ablehnung. Sie war eingesperrt in ein riesiges steinernes Gefängnis von der Größe eines Achtels der Sowjetunion – und konnte keinen Ausweg finden.
    Sie war eine Frau, sie hatte genug von dem endlosen Kampf mit einem Gegner, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte, einem Gegner, der erheblich stärker war als sie, stärker und gerissener.
    Das Geld, das sie mitgebracht hatte, war verbraucht – das Leben im Norden ist teuer –, ein Apfel kostete auf dem Markt von Magadan hundert Rubel. Angelina Grigorjewna hatte eine Stelle angenommen, aber die vor Ort, nicht vom Festland Angeworbenen bekamen andere Sätze gezahlt, die sich kaum von den Sätzen im Charkower Gebiet unterschieden.
    Ihr Mann hatte ihr oft eingeschärft: »Den Krieg gewinnt, wer die stärkeren Nerven hat«, und Angelina Grigorjewna flüsterte diese Worte eines deutschen Generals in den schlaflosen weißen Polarnächten vor sich hin. Angelina Grigorjewna spürte, dass ihre Nerven schwächer wurden. Sie war erschöpft von dieser weißen Stummheit der Natur, der blinden Mauer der menschlichen Gleichgültigkeit, der vollkommenen Ungewissheit und der Sorge, der Sorge um das Schicksal ihres Mannes – er hätte ja unterwegs einfach an Hunger sterben können. Andere Flüchtige hätten ihn umbringen, die Fahnder ihn erschießen können, und nur aus der aufdringlichen Aufmerksamkeit für sie und ihr persönliches Leben seitens der Behörde schloss Angelina Grigorjewna froh, dass ihr Mann nicht aufgegriffen wurde, dass er »gesucht« wird und sie also nicht umsonst leidet.
    Sie hätte sich gern jemandem anvertraut, der sie hätte verstehen, ihr etwas raten können – denn sie kannte den Hohen Norden so wenig. Sie hätte sich die schreckliche Last auf der Seele erleichtern wollen, die, wie ihr schien, mit jedem Tag, mit jeder Stunde wuchs.
    Aber wem konnte sie sich anvertrauen? In jedem und jeder sah und spürte Angelina Grigorjewna den Spion, den Denunzianten, den Beobachter, und ihr Gefühl trog sie nicht – all ihre Bekannten, in allen Siedlungen und Städten der Kolyma, wurden von der Behörde vorgeladen und informiert. All ihre Bekannten warteten angespannt auf ihre Geständnisse.
    Im zweiten Jahr machte sie ein paar Versuche, per Post mit Charkower Bekannten Kontakt aufzunehmen – all ihre Briefe wurden kopiert und in die Charkower Behörde geschickt.
    Gegen Ende des zweiten Jahres ihres erzwungenen Freiheitsentzugs schickte sie, halb verelendet, fast verzweifelt und nur in dem Wissen, dass ihr Mann am Leben war, Briefe auf den Namen Pawel Michajlowitsch Kriwoschej in alle großen Städte – »Postamt, postlagernd«.
    Zur Antwort bekam sie eine Geldüberweisung und im Weiteren kam jeden Monat ein wenig Geld, fünfhundert oder achthundert Rubel, aus unterschiedlichen Orten, von unterschiedlichen Personen. Kriwoschej war zu klug, um das Geld aus Mariupol abzuschicken, und die Behörde war zu erfahren, um das nicht zu verstehen. Die geographische Karte, die in solchen Fällen zur Markierung der »Kampfhandlungen« angelegt wird, ähnelt militärischen Stabs-Karten. Die Fähnchen darauf –

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