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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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wohlwollend gegenüber Kriwoschej. Seine Fremdsprachenkenntnis machte den nötigen Eindruck.
    Da sie in dem Fremden eine große kulturelle Kraft sah, an der das damalige Jakutsk nicht allzu reich war, beschwor die wissenschaftliche Leitung Kriwoschej, eine Weile dort zu bleiben. Auf die bestürzten Reden Pawel Michajlowitschs, er müsse eilig nach Moskau, versprach ihm die Leitung, ihm auf Staatskosten die Fahrt bis Wladiwostok einzurichten. Kriwoschej dankte ruhig, ohne seine Würde zu verlieren. Doch die wissenschaftliche Leitung hatte ihre Pläne mit Pawel Michajlowitsch.
    »Sie werden es, lieber Kollege, gewiss nicht abschlagen«, sagte die Leitung in untertänigem Ton, »vor unseren wissenschaftlichen Mitarbeitern zwei oder drei Vorträge zu halten … Über … zu einem freien Thema, nach Ihrer Wahl. Vielleicht über die Kohlelagerstätten in der Mitteljakutischen Anhöhe ?«
    Kriwoschej stockte das Herz.
    »Oh, natürlich, mit großem Vergnügen. Im Rahmen, sozusagen, des Zulässigen … Informationen, Sie verstehen selbst, ohne Approbation durch Moskau …«
    Dann verlegte sich Kriwoschej auf Komplimente an die wissenschaftlichen Kräfte der Stadt Jakutsk.
    Kein Untersuchungsführer hätte die Frage raffinierter gestellt, als das der jakutische Professor in seiner Sympathie für den gelehrten Gast, für seine Haltung und die Hornbrille und in dem Wunsch, seiner Heimatregion aufs Beste zu dienen, getan hat.
    Der Vortrag fand statt und versammelte sogar eine ordentliche Zahl von Zuhörern. Kriwoschej lächelte, zitierte Shakespeare auf Englisch, zeichnete etwas und zählte Dutzende ausländischer Namen auf.
    »Diese Moskauer wissen nicht viel«, sagte sein Tischnachbar im Buffet zu dem jakutischen Professor. »Alles Geologische an diesem Vortrag weiß im Grunde jeder Oberschüler, nicht wahr? Und die chemischen Analysen der Kohle – das ist schon nicht mehr Geologie, nicht wahr? Nur die Brille funkelt!«
    »Sagen Sie das nicht, sagen Sie das nicht«, der Professor runzelte die Brauen. »All das ist sehr nützlich, und die Gabe der Popularisierung besitzt unser hauptstädtischer Kollege zweifellos. Man muss ihn bitten, seine Mitteilung vor den Studenten zu wiederholen.«
    »Nun, höchstens vor den Studenten … des ersten Studienjahrs«, der Nachbar des Professors ließ nicht locker.
    »Hören Sie auf. Letzten Endes ist das eine Gefälligkeit, eine Liebenswürdigkeit. Dem geschenkten Gaul …«
    Der Vortrag wurde von Kriwoschej mit großer Liebenswürdigkeit für die Studenten wiederholt und stieß auf allgemeines Interesse und durchaus wohlwollende Beurteilung durch die Hörer.
    Auf Kosten der Jakutischen wissenschaftlichen Organisationen wurde der Moskauer Gast nach Irkutsk gebracht.
    Seine Sammlung – ein paar mit Steinen gefüllte Kisten – war schon zuvor abgeschickt worden. In Irkutsk gelang es dem »Leiter der geologischen Expedition«, diese Steine per Post nach Moskau, an die Akademie der Wissenschaften zu senden, wo sie auch ankamen und einige Jahre gelagert wurden als wissenschaftliches Geheimnis, dessen Ursprung niemand so recht erriet. Man nahm an, dass hinter diesem geheimnisvollen Paket, zusammengetragen von einem verrückten Geologen, der sein Wissen verloren und seinen Namen vergessen hatte, irgendeine noch ungeklärte Tragödie am Polarkreis stehe.
    »Das Erstaunlichste ist«, sagte Kriwoschej immer wieder, »dass ich auf meiner ganzen beinahe dreimonatigen Reise niemals und nirgends – weder bei den Nomaden-Dorfräten noch bei den obersten wissenschaftlichen Institutionen – nach meinen Papieren gefragt wurde. Ich hatte ja Papiere, aber ich musste sie niemals, kein einziges Mal zeigen.«
    In Charkow ließ sich Kriwoschej natürlich nicht blicken. Er siedelte sich in Mariupol an, kaufte dort ein Haus und nahm mit gefälschten Papieren eine Arbeit an.
    Genau zwei Jahre später, am Jahrestag seines »Feldzugs«, wurde Kriwoschej verhaftet, vor Gericht gestellt, wieder zu 10 Jahren verurteilt und zum Abbüßen der Strafe wieder an die Kolyma geschickt.
    Wo lag der Fehler, der diesen wahrhaft heroischen Schritt, diese Heldentat, die eine bewundernswerte Ausdauer, geistige Beweglichkeit und physische Kraft – alle menschlichen Qualitäten zugleich erforderte, zunichte machte?
    Diese Flucht ist beispiellos, was die Sorgfalt der Vorbereitung, die feine und kluge Idee, das psychologische Kalkül betrifft, das der ganzen Sache zugrunde liegt.
    Diese Flucht ist erstaunlich, wenn man die extrem

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