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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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erlaubte, zurückzukehren. Hervorragende Ernährung und Kleidung, ein Arbeitstag von 4-6 Stunden im Winter und 10 Stunden im Sommer, kolossale Verdienste für die Häftlinge, die es ihnen erlaubten, ihre Familien zu unterstützen und nach der Haftzeit als gut gestellte Leute aufs Festland zurückzukehren. An die Umschmiedung der Ganoven glaubte Eduard Petrowitsch nicht, dieses unstete und niederträchtige Menschenmaterial kannte er zu gut. An die Kolyma zu kommen war für die Diebe in den ersten Jahren schwer – die, denen es gelungen war, haben es später nicht bereut.
    Häftlingsfriedhöfe gab es in jener Zeit so wenige, dass man denken konnte, die Kolymabewohner seien unsterblich.
    Von der Kolyma zu fliehen hat niemand versucht – das wäre Blödsinn gewesen, Irrsinn …
    Diese wenigen Jahre waren das goldene Zeitalter an der Kolyma, von dem der entlarvte Spion und echte Volksfeind Nikolaj Iwanowitsch Jeshow auf einer der Sitzungen des Zentralen Exekutiv-Kommitees der UdSSR mit solcher Empörung sprach – kurz vor der »Jeshowschtschina«.
    1938 machte man die Kolyma zu einem Speziallager für Rückfalltäter und »Trotzkisten«. Flucht wurde nun mit drei Jahren bestraft.
    »Wie seid ihr denn geflohen? Ihr hattet doch weder Karte noch Kompass.«
    »Wir sind so geflohen. Aleksandr hier hat versprochen, uns rauszuführen …«
    Wir warteten im »Durchgangslager« gemeinsam auf den Abtransport. Die glücklosen Flüchtlinge waren drei: Nikolaj Karew, ein vielleicht fünfundzwanzigjähriger Bursche und ehemaliger Leningrader Journalist, der gleichaltrige Fjodor Wassiljew, Buchhalter aus Rostow, und der Kamtschadale Aleksandr Kotelnikow. Aleksandr Kotelnikow war ein Ureinwohner der Kolyma, von der Nationalität Kamtschadale, und von Beruf
kajur
, Rentierkutscher, verurteilt für den Diebstahl der Ladung, die dem Staat gehörte. Kotelnikow war etwa fünfzig, vielleicht auch wesentlich älter – das Alter eines Jakuten, Tschuktschen , Kamtschadalen oder Ewenken vom Äußeren zu bestimmen war schwierig. Kotelnikow sprach gut Russisch – nur den Laut »sch« konnte er einfach nicht aussprechen und ersetzte ihn durch »s« – und außerdem alle Dialekte der Tschuktschenhalbinsel. Er hatte eine Vorstellung auch von Puschkin und von Nekrassow, war mehrfach in Chabarowsk gewesen, kurz, er war reiseerfahren, aber im Herzen ein Romantiker – in seinen Augen funkelte etwas sehr Kindliches.
    Er also hatte sich erboten, seine jungen Freunde aus der Haft zu führen.
    »Ich habe ihnen gesagt – näher ist nach Amerika, gehen wir nach Amerika, aber sie wollten nach Festland, und ich habe nach Festland geführt. Zu Tschuktschen muss man kommen, zu Tschuktschen-Nomaden. Tschuktschen waren hier, sind gegangen, als der russische Mensch kam zu ihnen … Es war keine Zeit.«
    Die Flüchtigen waren bloß vier Tage gelaufen. Sie flohen Anfang September, in Schnürschuhen, in Sommerkleidung, in der Zuversicht, die Tschuktschen-Nomaden zu erreichen, wo sie, nach Kotelnikows Versicherung, Hilfe und Freundschaft erwarteten.
    Aber es fiel Schnee, dichter Schnee, früher Schnee. Kotelnikow ging in eine Ewenken-Siedlung, um Jakutenstiefel zu kaufen. Er kaufte Jakutenstiefel, und gegen Abend holte ein Fahnder-Trupp die Flüchtigen ein.
    »Der Tunguse ist ein Feind, ein Verräter«, Kotelnikow spuckte aus.
    Karew und Wassiljew aus der Tajga zu führen hatte sich der alte
kajur
ganz unentgeltlich erboten. Über die neue dreijährige »Zuwaage« war Kotelnikow nicht traurig.
    »Wenn der Frühling kommt, schicken sie uns ins Bergwerk, zum Arbeiten – dann gehe ich wieder.«
    Um sich die Zeit zu vertreiben, brachte er Karew und Wassiljew das Tschuktschische, das Kamtschadische bei. Der Anstifter dieser zum Misslingen verurteilten Flucht war natürlich Karew gewesen. Seine ganze Figur, theatralisch selbst in der Gefängnis-Lager-Situation, die Modulation seiner Samtstimme verströmte den Hauch des Leichtsinns – nicht einmal des Avanturismus. Mit jedem Tag wurde ihm die Ausweglosigkeit solcher Versuche immer klarer, er kam immer öfter ins Nachdenken und wurde schwach.
    Wassiljew war einfach ein guter Kamerad und bereit, jedes Los des Freundes zu teilen. Sie alle waren natürlich in ihrem ersten Jahr der Haft geflohen, solange sie noch Illusionen hatten … und die physische Kraft.
    Aus dem Küchenzelt der wandernden Geologensiedlung verschwanden in einer weißen Sommernacht zwölf Gläser Fleischkonserven. Das Verschwinden war in höchstem Grade

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