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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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immer wohlwollend und gutmütig.
    »Na, such es dir aus«, sagte Nesterow träge, »Kinnhaken oder in den Isolator …«
    »Kinnhaken, Iwan Spiridonowitsch.«
    Nesterows behaarte Faust zog über den Kopf des Flüchtigen, und der glückliche Flüchtling prallte zur Seite, sich das Blut abwischend und die ausgeschlagenen Zähne ausspuckend.
    »Marsch in die Baracke!«
    Iwan Spiridonowitsch streckte jeden zu Boden mit einem einzigen Schlag, einem einzigen »Kinnhaken«, dafür war er berühmt, darauf war er stolz.
    Der Häftling kam dabei auch nicht schlecht weg, mit Iwan Spiridonowitschs »Kinnhaken« war die Rechnung für die Flucht beglichen.
    Wenn aber der Flüchtige die Sache nicht auf familiäre Weise regeln wollte und auf der offiziellen Strafe bestand, auf der Verantwortung vor dem Gesetz – erwartete ihn der Lagerisolator, das Gefängnis mit Eisenboden, und die zwei, drei Monate dort auf der Karzerration erschienen dem Flüchtigen wesentlich schlimmer als Nesterows »Kinnhaken«.
    Wenn also der Flüchtige am Leben blieb, hatte die Flucht keinerlei besondere unangenehme Folgen, nur bei der Auswahl für die Freilassung, bei den »Entlastungen« konnte der ehemalige Flüchtling schon nicht mehr auf sein Glück zählen.
    Die Lager wuchsen, es wuchs auch die Zahl der Fluchten, eine Verstärkung der Wache hätte nicht geholfen – das war zu teuer, und in jenen Zeiten gab es extrem wenige Interessenten für den Eintritt in die Lagerwache.
    Die Frage der Verantwortung für die Flucht wurde unbefriedigend, unseriös, irgendwie nach Kinderart entschieden.
    Bald wurde eine neue Moskauer Erklärung verlesen: die Tage, an denen der Flüchtige auf der Flucht war, und die Zeit, die er für die Flucht im Isolator saß – zählen nicht mit bei der Bemessung seiner eigentlichen Haftzeit.
    Diese Anordnung erzeugte erhebliche Unzufriedenheit innerhalb der Kontrolldienststellen des Lagers – nicht nur der Stab müsste vergrößert werden, die so komplexen arithmetischen Berechnungen waren auch von den Mitarbeitern der Lagerkontrolle nicht immer zu bewältigen.
    Die Anordnung wurde übernommen und während des Appells der gesamten Lagerbelegschaft verlesen.
    Leider schreckte sie künftige Flüchtige nicht ab.
    Jeden Tag wuchs in den Berichten der Kompaniechefs die Rubrik »auf der Flucht«, und der Lagerchef, der die täglichen Aufstellungen las, machte von Tag zu Tag ein finstereres Gesicht.
    Als der Favorit des Chefs, der Musiker im Blasorchester des Lagers, Kapitonow, floh, nachdem er sein Ventilhorn an einen Ast der nächsten Fichte gehängt hatte – Kapitonow war mit dem blinkenden Instrument aus dem Lager gegangen wie mit einem Passierschein –, verlor der Chef das seelische Gleichgewicht.
    Im Spätherbst wurden auf der Flucht drei Häftlinge getötet. Nach der Identifizierung verfügte der Chef, ihre Leichen für drei Tage am Lagertor auszustellen, von dem aus alle zur Arbeit gingen. Aber auch diese inoffizielle scharfe Maßnahme verhinderte, verminderte die Fluchten nicht.
    All das war Ende der zwanziger Jahre. Dann folgte die »Umschmiedung«, der Weißmeerkanal, die Konzentrationslager wurden umbenannt in »Arbeitsbesserungslager«, die Zahl der Häftlinge verhunderttausendfachte sich und die Flucht wurde schon als eigenständiges Verbrechen behandelt – im Gesetzbuch von 1926 gab es einen Artikel 82, und als Bestrafung war darin ein weiteres Jahr Haft vorgesehen.
    All das war auf dem Festland, nicht an der Kolyma – einem Lager, das seit 1932 existierte –, dort stellte sich die Frage nach den Flüchtigen erst 1938. Von diesem Jahr an wurde die Strafe für die Flucht erhöht, der »Termin« wuchs bis auf ganze drei Jahre an.
    Warum fallen die Jahre 1932 bis einschließlich 1937 an der Kolyma aus dieser Chronik der Fluchten heraus? Das ist die Zeit, in der dort Eduard Petrowitsch Bersin arbeitete. Der erste Chef an der Kolyma, von der Partei, den Sowjets und der Gewerkschaft mit der größten Macht in der Region ausgestattet, der Begründer der Kolyma, 1938 erschossen und 1965 rehabilitiert, ehemaliger Sekretär Dsershinskijs, ehemaliger Kommandeur einer Division der Lettischen Schützen , der die berühmte Lockhart-Verschwörung entlarvt hat – Eduard Petrowitsch Bersin versuchte, überaus erfolgreich, das Problem der Kolonisierung einer sehr rauen Region und zugleich die Probleme der »Umschmiedung« und der Isolierung zu lösen. Eine Anrechnung der Arbeitstage, die den Zehnjährigen nach zwei, drei Jahren

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