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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Jahre! Und als ich das begriffen hatte, hatte ich über mich selbst gesiegt. Ich wusste, dass ich meinem Gedächtnis nicht erlauben werde, alles zu vergessen, was ich gesehen habe. Und ich beruhigte mich und schlief ein.
    Ich wachte auf, wendete die Fußlappen auf die trockene Seite, wusch mich mit Schnee – schwarze Spritzer flogen nach allen Seiten – und machte mich auf den Weg in die Stadt. Das war die erste richtige Stadt in achtzehn Jahren. Jakutsk war ein großes Dorf. Die Lena hatte sich weit von der Stadt entfernt, aber die Bewohner fürchteten ihre Rückkehr, ihr Hochwasser, und das Sandfeld des Betts war leer – dort gab es nur Schneegestöber. Hier, in Irkutsk, gab es große Häuser, das Gerenne der Bewohner, Geschäfte.
    Ich kaufte dort eine gewirkte Wäschegarnitur – solche Wäsche hatte ich achtzehn Jahre nicht getragen. Es machte mir unsägliches Vergnügen, Schlange zu stehen, zu bezahlen, den Kassenzettel hinzuhalten. »Größe?« Ich hatte meine Größe vergessen. »Die größte.« Die Verkäuferin schüttelte missbilligend den Kopf. »Fünfundfünfzig?« – »Ja, ja.« Und sie wickelte mir die Wäsche ein, die ich gar nicht tragen sollte, denn meine Größe war 51 – das fand ich erst in Moskau heraus. Die Verkäuferinnen trugen alle dieselben dunkelblauen Kleidchen. Ich kaufte noch einen Rasierpinsel und ein Taschenmesser. Diese wunderbaren Dinge kosteten sagenhaft wenig. Im Norden waren all diese Dinge selbstgemacht – Rasierpinsel wie auch Taschenmesser.
    Ich ging in einen Buchladen. In der antiquarischen Abteilung verkaufte man die »Russische Geschichte« von Solowjow – für 850 Rubel alle Bände. Nein, Bücher würde ich vor Moskau nicht kaufen. Aber Bücher in der Hand zu halten, an der Theke im Buchladen zu stehen, das war wie ein guter Borschtsch mit Fleisch … Wie ein Glas lebendiges Wasser.
    In Irkutsk trennten sich unsere Wege. Noch in Jakutsk, gestern, waren wir alle gemeinsam durch die Stadt gelaufen und hatten alle gemeinsam die Flugkarten gekauft. In der Schlange gestanden hatten wir alle gemeinsam, zu viert – einem anderen das Geld anzuvertrauen wäre niemandem in den Sinn gekommen. Das war nicht üblich in unserer Welt. Ich ging bis zur Brücke und schaute hinunter: in die brausende, grüne, bis auf den Grund durchsichtige Angara – die mächtige, saubere Angara. Und mit der erfrorenen Hand das braune kalte Geländer berührend, den Geruch von Benzin und winterlichem Stadtstaub einatmend, schaute ich die eiligen Fußgänger an und begriff, wie sehr ich Stadtmensch war. Ich begriff, dass das Teuerste, Wichtigste für einen Menschen die Zeit ist – in der die Heimat entsteht, ehe noch Familie und Liebe entstehen. Das ist die Zeit der Kindheit und der frühen Jugend. Und mein Herz krampfte sich zusammen. Ich grüßte Irkutsk aus ganzer Seele. Irkutsk war mein Wologda, mein Moskau.
    Als ich mich dem Bahnhof näherte, schlug mir jemand auf die Schulter.
    »Man wird mit dir reden«, sagte ein weißlicher Junge in einer Steppjacke und führte mich ins Dunkle. Sofort tauchte aus der Finsternis ein kleingewachsener Mann auf und sah mich aufmerksam an.
    Ich sah an seinem Blick, mit wem ich es zu tun hatte. Feige und dreist, schmeichlerisch und voller Hass war dieser mir so gut bekannte Blick. In der Dunkelheit sah ich noch weitere Typen, ich brauchte sie nicht zu kennen – sie werden im passenden Moment erscheinen – mit Messern, mit Nägeln, mit Piken in der Hand. Jetzt war vor mir nur ein Gesicht, mit bleicher, erdiger Haut, mit geschwollenen Lidern, mit einem winzigen Mund, wie angeklebt an das fliehende rasierte Kinn.
    »Wer bist du?« Er streckte die schmutzige Hand mit den langen Nägeln aus. Ich musste antworten. Weder die Patrouille noch der Milizionär konnten hier einen Schutz bieten. »Du bist von der Kolyma!«
    »Ja, von der Kolyma.«
    »Wo hast du dort gearbeitet?«
    »Als Feldscher bei den Trupps.«
    »Als Feldscher? Als Knochenklempner? Dann hast du das Blut von unsereinem getrunken. Wir haben mit dir was zu besprechen.«
    Ich drückte in der Tasche das neugekaufte Taschenmesser und schwieg. Hoffen konnte ich nur auf einen Zufall, auf irgendeinen Zufall. Geduld und der Zufall – das ist es, was uns gerettet hat und rettet. Und der Zufall kam. Die beiden Pfeiler, auf denen die Welt des Häftlings steht.
    Die Dunkelheit zerstreute sich.
    »Ich kenne ihn.« Im Licht erschien eine neue Figur, mir völlig unbekannt. Ich hatte ein großartiges Gedächtnis für

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