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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Gesichter. Aber diesen Mann hatte ich nie gesehen.
    »Du?«, der Finger mit dem langen Nagel beschrieb einen Halbkreis.
    »Ja, er hat an der Kodyma gearbeitet«, sagte der Unbekannte. »Sie sagen, ein Mensch. Hat unseren Leuten geholfen. Haben ihn gelobt.«
    Der Finger mit dem Nagel verschwand.
    »Na, mach dich weg«, sagte der Dieb gehässig. »Wir denken nach.«
    Ich hatte das Glück, dass ich nicht mehr im Bahnhof übernachten musste. Der Zug nach Moskau ging am heutigen Abend.
    Am Morgen war das drückende Licht von elektrischen Glühbirnen, trübes Licht, das einfach nicht erlöschen wollte. Durch die schlagenden Türen sah man den Irkutsker Tag, kalt und hell. Haufen von Menschen, die die Durchgänge verstopften, die jeden Quadratzentimeter des Zementbodens, der speckigen Bank belegten – sobald jemand aufstand, sich bewegte, wegging. Das endlose Schlangestehen vor der Kasse – eine Fahrkarte nach Moskau, nach Moskau, und dann sieht man weiter … Nicht nach Dshambul, wie es in den Papieren heißt. Aber wen kümmern diese Papiere von der Kolyma in diesem Gewühl, in dieser unendlichen Bewegung. Endlich bin ich an der Reihe an dem Fensterchen, die verkrampften Bewegungen, um das Geld hervorzuholen, ein Päckchen glänzender Scheine in die Kasse zu reichen, wo sie verschwinden – unvermeidlich verschwinden, wie das ganze Leben bis zu diesem Moment verschwunden ist. Doch das Wunder setzte sich fort, und das Fensterchen warf einen festen Gegenstand aus, rau, fest und dünn, wie ein Scheibchen Glück – die Fahrkarte nach Moskau. Die Kassiererin schrie etwas wie – dass das ein gemischter Zug ist, dass der Bettplatz nur im gemischten Waggon ist und man einen richtigen erst für morgen oder übermorgen bekommt. Aber ich verstand nichts, außer den Worten »morgen« und »heute«. Heute, heute. Ich umfasste meine Karte fest, versuchte, all ihre Ränder zu spüren in meiner gefühllosen, erfrorenen Haut, und schlug mich, arbeitete mich durch an einen freien Platz. Ich kam aus dem Flugzeug – ich hatte keine überflüssigen Sachen – nur ein kleines Holzköfferchen. Ich kam aus dem Hohen Norden – ich hatte keine überflüssigen Sachen – nur den kleinen Sperrholzkoffer, eben den, den ich in Adygalach vergebens zu verkaufen versucht hatte, als ich Geld für die Reise nach Moskau sammelte. Die Fahrt hat man mir nicht bezahlt, aber das waren alles Lappalien. Die Hauptsache ist dieses feste Papptäfelchen der Bahnfahrkarte.
    Nachdem ich mich irgendwo in einer Ecke des Bahnhofs ausgeruht hatte – mein Platz unter der grellen Lampe war natürlich besetzt, lief ich durch die Stadt und ging zum Bahnhof zurück.
    Das Einsteigen hatte schon begonnen. Auf der Rampe stand ein Spielzeugzug, unwahrscheinlich klein, man hatte einfach ein paar schmutzige Pappkartons nebeneinander aufgestellt – unter Hunderten anderer, in denen Gleisbauer oder Betriebsleute wohnten, wo gefrorene Wäsche hing, die unter den Schlägen des Winds knatterte.
    Mein Zug unterschied sich in nichts von diesen in Wohnheime verwandelten Wagensätzen.
    Diese Wagen sahen nicht aus wie ein Zug, der in soundsoviel Stunden nach Moskau fuhr, sondern sahen aus wie ein Wohnheim. Dort wie hier stiegen Menschen die Stufen hinunter, dort wie hier wurden irgendwelche Sachen über den Köpfen der sich bewegenden Leute durch die Luft bewegt. Ich begriff, dass dem Zug das Wichtigste fehlte, das Leben, das Versprechen der Bewegung – die Lokomotive. Tatsächlich, keines der Wohnheime hatte eine Lokomotive.
    Mein Zug glich einem Wohnheim. Und ich hätte nicht geglaubt, dass diese Waggons mich nach Moskau würden tragen können, aber man stieg schon ein.
    Eine Schlacht, eine schreckliche Schlacht am Eingang in den Waggon. So, als wäre die Arbeit zwei Stunden früher zu Ende gewesen als sonst, und alle sind nach Hause, in die Baracke, zum warmen Ofen gerannt und drängen in die Tür.
    Keine Rede von einem Schaffner … Jeder suchte seinen Platz selbst, ließ sich nieder und rührte sich nicht mehr vom Fleck. Mein mittlerer Bettplatz war natürlich besetzt von einem betrunkenen Leutnant, der ununterbrochen rülpste. Ich zerrte den Leutnant heraus und zeigte ihm meine Fahrkarte.
    »Ich habe auch eine Karte für diesen Platz«, erklärte der Leutnant friedfertig, hickste, glitt auf den Boden und schlief sofort ein.
    In den Waggon drängten und drängten Menschen. Irgendwelche riesigen Warenballen und Koffer wurden nach oben gehievt und verschwanden irgendwo dort oben.

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