Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Sicherheit der Antworten erkannte ich, dass es irgendwelche neuen Befehle, neue »Erläuterungen« gab …
»Willst du nicht den Winter noch bleiben?« Es war Ende Oktober, mitten im Winter.
»Nein.«
»Na gut. Wenn er nicht will, haltet ihn nicht …«
»Zu Befehl, Genosse Natschalnik!« Zapko stand vor dem Lagerchef stramm, schlug die Absätze zusammen, und wir gingen hinaus in den schmutzigen Korridor.
»Na also«, sagte Zapko zufrieden. »Du hast erreicht, was du wolltest. Wir entlassen dich in alle vier Winde. Du fährst aufs Festland. Auf deinen Platz wird der Feldscher Nowikow eingesetzt. Er kommt, wie ich – von der Front, aus dem Krieg. Ihr fahrt gemeinsam zurück zu dir – dort übergibst du alles in aller Form, und dann komm hierher zum Abrechnen.«
»Dreihundert Kilometer? Und wieder hierher – für diese Reise vergeht ja ein Monat. Mindestens.«
»Mehr kann ich nicht tun. Ich habe alles getan.«
Ich begriff, dass auch das Gespräch mit dem Lagerchef ein Betrug gewesen, im Voraus vorbereitet war.
An der Kolyma darf man sich mit niemandem beraten. Ein Häftling und ein ehemaliger Häftling haben keine Freunde. Schon der erste Ratgeber läuft zum Chef, um zu berichten, den Kameraden auszuliefern, Wachsamkeit zu beweisen.
Zapko war längst gegangen, und ich saß noch immer auf dem Korridorfußboden und rauchte und rauchte.
»Und was ist das für ein Nowikow? Ein Feldscher von der Front?«
Ich fand Nowikow. Das war ein von der Kolyma überrumpelter Mann. Seine Einsamkeit, seine Nüchternheit, sein unsicherer Blick zeigten, dass die Kolyma für Nowikow vollkommen, vollkommen anders war, als er erwartet hatte, als er die Jagd auf den schnellen Rubel begann. Nowikow war zu sehr Neuling , zu sehr Frontsoldat.
»Hör zu«, sagte ich. »Du kommst von der Front. Ich bin hier siebzehn Jahre. Habe zwei Haftstrafen abgebüßt. Jetzt entlassen sie mich. Ich werde meine Familie sehen. An meinem Feldscherpunkt ist alles in Ordnung. Hier ist die Inventarliste. Alles ist versiegelt. Unterschreib das Abnahmeprotokoll unbesehen …«
Nowikow unterschrieb, ohne sich mit jemandem zu beraten.
Ich ging Zapko nicht melden, dass das Protokoll unterschrieben war. Ich ging direkt in die Buchhaltung. Der Buchhalter prüfte meine Dokumente – alle Bescheinigungen, alle Papiere.
»Na gut«, sagte er. »Du kannst die Abrechnung bekommen. Es gibt nur einen Haken. Gestern kam ein Telephonogramm aus Magadan – alle Entlassungen einstellen bis zum Frühjahr, zur kommenden Schifffahrtsperiode.«
»Was habe ich mit der Schifffahrtsperiode zu tun. Ich fliege ja.«
»Das ist ein allgemeiner Befehl, du weißt ja selbst. Bist nicht von gestern.«
Ich saß wieder auf dem Boden im Kontor und rauchte, rauchte. Zapko kam vorbei.
»Noch nicht gefahren?«
»Nein, noch nicht gefahren.«
»Na, servus …«
Die Enttäuschung war aus irgendeinem Grund nicht tief. Solche Rückschläge war ich gewöhnt. Aber jetzt durfte nichts Schlimmes passieren. Mit meinem ganzen Körper, mit meinem ganzen Willen war ich noch in Bewegung, in Anspannung, im Kampf. Irgendetwas war einfach noch nicht zu Ende gedacht. Irgendeinen Fehler hatte das Schicksal in seiner kalten Berechnung, im Spiel mit mir gemacht. Hier war der Fehler. Ich ging zum Sekretär des Chefs, eben jenes Ingenieurs und Obersten Kondakow – er war wieder auf Reisen.
»Gab es gestern ein Telephonogramm über die Einstellung der Entlassungen?«
»Ja.«
»Aber ich«, ich spürte, wie die Kehle austrocknete, und konnte die Worte kaum aussprechen, »ich wurde ja schon vor einem Monat entlassen. Laut Befehl Nummer 65. Auf mich kann sich das gestrige Telephonogramm nicht beziehen. Ich bin ja entlassen. Vor einem Monat. Ich bin unterwegs, auf dem Weg …«
»Ja, sieht so aus«, stimmte der Leutnant zu. »Gehen wir zum Buchhalter!«
Der Buchhalter stimmte uns zu, aber er sagte:
»Warten wir auf Kondakows Rückkehr. Soll er entscheiden.«
»Nun«, sagte der Leutnant. »Das würde ich nicht raten. Den Befehl hat Kondakow selbst unterschrieben. Von sich aus. Niemand hat ihn ihm zur Unterschrift vorgelegt. Er wird dir das Fell abziehen bei Nichtbefolgung.«
»Gut«, sagte der Buchhalter und schielte zu mir. »Nur«, der Buchhalter schnalzte mit den Fingern, »die Fahrt auf deine eigenen Kosten.«
Die Fahrkarte nach Moskau mit dem Flugzeug und dem Zug kostete dreieinhalbtausend Rubel, und ich hatte das Recht auf Bezahlung der Fahrt durch Dalstroj, meinen Herrn über vierzehn
Weitere Kostenlose Bücher