Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
von mir auf einem unteren Platz, und das schwankende Licht der trüben Waggon-Leuchte fiel ab und zu auf das unendlich erschöpfte Gesicht und die mit Gott weiß was, aber nicht mit Lippenstift geschminkten Lippen. Dann kam jemand zu ihr, sagte etwas, und sie verschwand im Schaffnerabteil. »Fünfzig Rubel«, sagte der Leutnant, der schon nüchtern war und sich als überaus netter junger Mann erwies.
Ich spielte mit ihm ein sehr interessantes Spiel. Wenn ein neuer Passagier einstieg, versuchte jeder von uns, den Beruf dieses Passagiers, sein Alter, seine Beschäftigung zu erraten. Wir tauschten unsere Beobachtungen aus, dann setzte er sich zu dem Passagier, begann mit ihm ein Gespräch und kam mit der Antwort zu mir.
Bei jener Dame mit den geschminkten Lippen, aber ohne Lackspuren an den Fingernägeln, vermuteten wir einen medizinischen Beruf, und der Leopardenpelz, den die Dame trug, ein sichtlich künstlicher, falscher Pelz, sagte, dass die Besitzerin eher Krankenschwester oder Feldscherin war als Ärztin. Eine Ärztin hätte keinen künstlichen Pelzmantel getragen. Von Nylon und Synthetik hatte man damals noch nichts gehört. Unser Schluss erwies sich als richtig.
Ab und zu rannte ein zweijähriges Kind – auf krummen Beinchen, schmutzig, abgerissen, blauäugig – von irgendwo aus dem Waggon an unserem Abteil vorbei. Seine bleichen Wangen waren mit einem Grind bedeckt. Ein, zwei Augenblicke später folgte ihm mit sicherem und festem Schritt der junge Vater – in einer Steppjacke, mit schweren, kräftigen, dunklen Arbeiterfingern. Er fing den Jungen ein. Der Kleine lachte, er lächelte den Vater an, und der Vater lächelte den Jungen an und brachte den Knirps in freudigem Entzücken zurück – in eines der Abteile in unserem Waggon. Ich erfuhr ihre Geschichte. Eine gewöhnliche Kolyma-Geschichte. Der Vater, ein
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, war gerade freigekommen und fuhr aufs Festland. Die Mutter des Kindes wollte nicht zurückkehren, und der Vater fuhr mit dem Sohn, er hatte sich fest vorgenommen, das Kind und vielleicht auch sich selbst aus der festen Umklammerung der Kolyma herauszureißen. Warum fuhr die Mutter nicht? Vielleicht war das die gewöhnliche Geschichte.
Sie hatte einen anderen gefunden, das ungebundene Leben an der Kolyma liebgewonnen – sie war schon Freie und wollte auf dem Festland nicht Mensch zweiter Klasse sein … Vielleicht war die Jugend verblüht. Oder die Liebe, eine Kolyma-Liebe, war zu Ende, wer weiß? Und vielleicht war es auch noch etwas Schrecklicheres. Die Mutter hatte nach Artikel 58 gesessen – dem zivilsten der zivilen – und wusste, was ihr bei der Rückkehr aufs Große Land drohte. Eine neue Haftzeit, neue Qualen. An der Kolyma ist sie auch nicht geschützt vor einer neuen Haft, aber – sie werden sie nicht hetzten, wie man alle auf dem Festland hetzt.
Ich erfuhr es nicht und wollte es nicht erfahren. Hochherzigkeit, Anstand und die Liebe zu seinem Kind, das der Vater ja wahrscheinlich kaum gesehen hatte, das Kind war ja in der Krippe gewesen, im Kindergarten.
Die ungeschickten Hände des Vaters, die das Kinderhöschen aufknöpften, die riesigen verschiedenfarbigen Knöpfe, die mit groben, ungeschickten, aber liebenden Händen angenäht waren. Das Glück des Vaters und das Glück des Jungen. Dieser zweijährige Knirps kannte das Wort »Mama« nicht. Er schrie: »Papa, Papa!« Er und der dunkelhäutige Schlosser spielten miteinander, fanden kaum Platz zwischen den Betrunkenen, zwischen den Spielern, zwischen den Spekulantenkörben und Ballen. Aber diese beiden Menschen in unserem Waggon waren wirklich glücklich.
Der Passagier, der seit Irkutsk den zweiten Tag geschlafen hatte und nur aufgewacht war, um die nächste Flasche Wodka oder Weinbrand oder Likör zu trinken, herunterzukippen, konnte nicht mehr weiterschlafen. Ein Rucken ging durch den Zug. Der schlafende betrunkene Passagier krachte auf den Boden und begann zu stöhnen, zu stöhnen. Die von den Schaffnern herbeigerufene Erste Hilfe stellte fest, dass der Passagier sich die Schulter gebrochen hatte. Er wurde auf einer Trage hinausgetragen und verschwand aus meinem Leben.
Plötzlich erschien im Waggon die Figur meines Retters, oder – Retter ist ein zu großes Wort, es war ja dort zu nichts Schwerwiegendem, Blutigen gekommen. Mein Bekannter saß da, erkannte mich nicht oder wollte mich gewissermaßen nicht erkennen. Trotzdem schauten wir uns an, und ich ging zu ihm hin. »Ich möchte wenigstens bis nach Hause kommen und
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