Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
erklären.«
    Doch für die Erklärungen konnte sich der Vierzehnte nicht entscheiden. Was kann nicht alles passieren. Wenn Weltman die Physiognomie des Vierzehnten nicht gefällt. Dann lässt er ihn nicht nur mit der nächsten Maschine nicht fliegen, sondern streicht ihn ganz von den Listen. Auch das kam vor.
    »Und wer wurde eingesetzt?«
    »Ich kann es nicht lesen«, der Diensthabende mit der Kokarde fixierte den neuen Namen und rief plötzlich meinen Namen auf:
    »Hier bin ich.«
    »Zum Kassierer – schnell.«
    Ich dachte: ich werde nicht den Hochherzigen spielen, ich werde nicht ablehnen, ich fahre, ich fliege. Hinter mir liegen siebzehn Jahre Kolyma. Ich stürmte zum Kassierer, als letzter, zog die nicht vorbereiteten Papiere hervor, zerknitterte das Geld, ließ meine Sachen auf den Boden fallen.
    »Lauf schnell«, sagte der Kassierer. »Euer Pilot hat schon gegessen, und der Wetterbericht ist schlecht – man muss dem Wetter zuvorkommen und Jakutsk erreichen.«
    Dieses überirdische Gespräch hörte ich mit angehaltenem Atem.
    Bei der Landung hatte der Pilot das Flugzeug nah an die Tür der Kantine herangefahren. Das Einsteigen war längst beendet. Ich rannte mit meinem Sperrholzköfferchen zum Flugzeug. Ohne die Handschuhe anzuziehen, die reifbedeckte Flugkarte in den erstarrenden Fingern drückend, rannte ich außer Atem.
    Der Flugplatz-Inspektor kontrollierte meine Karte und half mir hinauf in die Luke. Der Pilot schloss die Luke und kam in die Kabine.
    »Start!«
    Ich erreichte meinen Platz, meinen Sitz, unfähig, an etwas zu denken, unfähig, etwas zu begreifen.
    Mein Herz klopfte, klopfte ganze sieben Stunden, bis das Fluzeug plötzlich gelandet war. Jakutsk.
    Im Flughafen von Jakutsk schlief ich umarmt mit meinem neuen Kameraden – dem Nachbarn aus dem Flugzeug. Ich musste den billigsten Weg nach Moskau ausrechnen – obwohl ich Fahrscheine bis Dshambul hatte, war mir klar, dass die Gesetze der Kolyma wohl kaum auf dem Großen Land galten. Wahrscheinlich würde es möglich sein, Arbeit und ein Leben auch außerhalb Dshambuls zu finden. Ich würde noch Zeit haben, darüber nachzudenken.
    Und vorläufig war es das billigste, bis Irkutsk mit dem Flugzeug und dann mit dem Zug nach Moskau. Fünf Tage und Nächte. Oder aber bis Nowosibirsk und dann – auch mit der Eisenbahn nach Moskau. Welches Flugzeug früher fliegen würde … Ich kaufte eine Karte nach Irkutsk.
    Bis zum Flugzeug blieben ein paar Stunden, und in diesen paar Stunden lief ich durch ganz Jakutsk, betrachtete die gefrorene Lena, die schweigende einstöckige, einem großen Dorf ähnelnde Stadt. Nein, Jakutsk war noch keine Stadt, war nicht das Große Land. Es gab dort keinen Lokomotivrauch.
    1964

Der Zug
    Auf dem Bahnhof Irkutsk legte ich mich unter das Licht einer elektrischen Glühbirne, hell und grell – immerhin hatte ich im Gürtel all mein Geld eingenäht. In einem Leinengürtel, den man mir vor zwei Jahren in der Werkstatt genäht hatte und der mir endlich seinen Dienst erweisen sollte. Vorsichtig über Beine steigend, sich zwischen den schmutzigen, stinkenden, abgerissenen Körpern einen Pfad suchend, lief ein Milizionär über den Bahnhof und, was noch besser war – eine Militärpatrouille mit roten Armbinden und mit MPis. Natürlich käme der Milizionär mit dem Pack nicht zurecht – und das stand wahrscheinlich fest, ehe ich auf dem Bahnhof erschien. Nicht dass ich Angst gehabt hätte, dass man mir das Geld stiehlt. Ich hatte schon längst vor nichts mehr Angst, aber mit Geld war es einfach besser als ohne Geld. Das Licht fiel mir in die Augen, aber das Licht war mir früher tausendmal in die Augen gefallen, und ich hatte gelernt, bei Licht hervorragend zu schlafen. Ich stellte den Kragen der Steppjacke hoch, die in offiziellen Dokumenten Dreiviertelmantel hieß, steckte die Hände fest in die Ärmel, zog die Filzstiefel ein klein wenig von den Füßen; die Zehen bekamen Luft, und ich schlief ein. Vor Zugwind hatte ich keine Angst. Alles war vertraut: die Pfiffe der Lokomotive, die Waggons, die sich in Bewegung setzten, der Bahnhof, der Milizionär, der Basar am Bahnhof – als hätte ich nur einen viele Jahre dauernden Traum gehabt und wäre jetzt aufgewacht. Und ich erschrak, und kalter Schweiß bedeckte meine Haut. Ich erschrak über die schreckliche Kraft des Menschen – den Wunsch und die Fähigkeit zu vergessen. Ich sah, dass ich bereit war, alles zu vergessen, zwanzig Jahre aus meinem Leben zu streichen. Und was für

Weitere Kostenlose Bücher