Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Man spürte den scharfen Geruch von Schafpelzen, menschlichem Schweiß, Schmutz und Karbolsäure.
»Ein Durchgangslager, ein Durchgangslager«, wiederholte ich, auf dem Rücken liegend, in den schmalen Raum zwischen mittlerer und oberer Koje geschoben. An mir vorbei kroch nach oben der Leutnant, mit aufgeknöpftem Kragen, mit rotem verdrücktem Gesicht. Der Leutnant krallte sich oben an etwas fest, machte einen Klimmzug und verschwand …
In dem Getümmel, im Geschrei dieses Waggon-Durchgangslagers hörte ich dann auch das Wichtigste nicht, das ich hören wollte und musste, wovon ich siebzehn Jahre geträumt hatte, das für mich eine Art Symbol des Festlands, Symbol des Lebens, Symbol der Großen Landes geworden war. Ich hörte den Lokomotivenpfiff nicht. Ich hatte auch nicht daran gedacht während der Schlacht um den Platz im Waggon. Den Pfiff hatte ich nicht gehört. Doch die Waggons ruckten und wankten, und unser Waggon, unsere Etappe, schob sich von der Stelle, so als schliefe ich langsam ein und die Baracke verschwömme vor meinen Augen.
Ich zwang mich zu begreifen, dass ich fahre – nach Moskau.
An irgendeiner Weiche, nicht weit von Irkutsk, ruckte der Waggon, und die Figur des Leutnants, der sich übrigens kräftig an die obere Koje klammerte, in der er schlief, rutschte heraus und hing über uns. Der Leutnant rülpste und erbrach sich direkt auf meinen Platz und ebenso auf die Koje meines Nachbarn. Das Erbrechen war unbändig. Mein Nachbar zog seinen Pelz aus – keine Weste, keine Steppjacke, sondern eine
moskwitschka
mit Pelzkragen – und machte sich, unter unbändigem Fluchen, an das Abwischen des Erbrochenen.
Mein Nachbar hatte eine Unzahl von Flechtkörben dabei, in Bastmatten eingenäht oder ohne. Von Zeit zu Zeit erschienen aus der Tiefe des Waggons irgendwelche Frauen, in dörfliche Tücher gehüllt, in Halbpelzen, mit genau denselben Flechtkörben auf den Schultern. Die Frauen riefen meinem Nachbarn etwas zu, der winkte ihnen grüßend.
»Meine Schwägerin! Sie besucht Verwandte in Taschkent«, erklärte er mir, obwohl ich ja keinerlei Erklärungen verlangt hatte.
Bereitwillig öffnete und zeigte der Nachbar den nächststehenden Korb. Außer einem schäbigen Herrenanzug und weiterem Krempel war nichts darin. Dafür hatte er viele Photographien, Familien- und Gruppenbilder, auf riesigen Passepartouts, Photographien, die zum Teil noch Daguerreotypien waren. Eine größere Photographie wurde aus dem Korb geholt, und mein Nachbar erklärte bereitwillig und ausführlich, wer hier wo steht, wer im Krieg gefallen ist und wer einen Orden bekommen hat, wer auf Ingenieur studiert. »Und das bin ich«, er tippte ständig auf die Photographie – irgendwo in die Mitte, und alle, denen er diese Photographien zeigte, nickten ergeben, höflich und teilnehmend mit dem Kopf.
Am dritten Tag des Zusammenlebens in diesem rüttelnden Waggon sagte mir mein Nachbar, der sich von mir eine vollständige, klare und zweifellos richtige Vorstellung gemacht hatte, obwohl ich nichts von mir erzählt hatte, ganz rasch, während die Aufmerksamkeit der anderen Nachbarn durch irgendetwas abgelenkt war:
»Ich steige in Moskau um. Hilfst du mir, einen Korb durch den Gang zu ziehen? Über die Waage?«
»Ich werde ja in Moskau abgeholt.«
»Ach ja. Ich habe vergessen, dass Sie in Moskau abgeholt werden.«
»Und was ist in den Körben?«
»Was? Sonnenblumenkerne. Und aus Moskau nehmen wir Gummischuhe mit …«
Ich stieg an keinem der Bahnhöfe aus. Essen hatte ich bei mir. Ich fürchtete, dass der Zug bestimmt ohne mich fahren, dass etwas Schlimmes passieren würde – das Glück kann ja nicht ewig dauern.
In der dritten Koje mir gegenüber lag ein Mann im Pelz, unendlich betrunken, ohne Mütze und Handschuhe. Betrunkene Freunde hatten ihn in den Waggon gesetzt und die Fahrkarte der Schaffnerin übergeben. Nach vierundzwanzig Stunden stieg er irgendwo aus und kam mit einer Flasche dunklem Wein zurück, er trank ihn direkt aus dem Hals und warf die Flasche – auf den Waggonboden. Die Schaffnerin schnappte sich die Flasche geschickt und trug sie in ihre Schaffnerhöhle, die zugeschüttet war mit Decken, die niemand nahm im gemischten Waggon, und mit Laken, die niemand brauchte. Hinter der Absperrung aus Decken hatte sich im selben Schaffnerabteil in der oberen, dritten Koje eine Prostituierte eingerichtet, die von der Kolyma kam, vielleicht auch eine von der Kolyma zur Prostituierten Gemachte … Diese Dame saß nicht weit
Weitere Kostenlose Bücher