Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Angst.
Gerührt von diesem Schicksal Nastjas, das übrigens tausend ebensolchen Schicksalen glich, versprach ihr Wostokow, der alte Krankenhausarzt, sie auf eine Stelle als Stenotypistin im Kontor zu vermitteln, wenn sie ihr Leben ändert. »Das liegt nicht in meiner Macht«, schrieb Nastja in schöner Handschrift als Antwort an den Arzt. »Mich kann man nicht retten. Wenn Sie mir etwas Gutes tun wollen, kaufen Sie mir Kapron-Strümpfe in der kleinsten Größe. Für Sie zu allem bereit, Nastja Archarowa.«
Die Diebin Sima Sosnowskaja war tätowiert von Kopf bis Fuß. Merkwürdige, ineinander verschlungene sexuelle Szenen des wunderlichsten Inhalts bedeckten in verwickelten Linien ihren ganzen Körper. Nur Gesicht, Hals und die Arme bis zum Ellbogen waren frei von Tätowierungen. Diese Sima war im Krankenhaus bekannt für einen verwegenen Diebstahl – sie hatte die goldene Uhr vom Arm des Begleitpostens genommen, der unterwegs beschloss, die Gewogenheit der hübschen Sima auszunutzen. Simas Charakter war erheblich friedlicher als der von Aglaja Demidowa, sonst hätte der Begleitposten bis zum Jüngsten Gericht in den Büschen gelegen. Sie betrachtete es als lustige Begebenheit und fand, dass die goldene Uhr kein zu hoher Preis sei für ihre Liebe. Der Begleitposten aber wurde fast verrückt und forderte bis zuletzt, ihm die Uhr zurückzugeben, und durchsuchte Sima zweimal ohne jeden Erfolg. Das Krankenhaus war nah, die Etappe war zahlreich – im Krankenhaus Krawall zu machen, zögerte der Begleitposten. Die goldene Uhr blieb bei Sima. Bald wurde die Uhr vertrunken, und ihre Spur verlor sich.
Im Moralkodex der Ganoven wird, wie im Koran, die Frauenverachtung proklamiert. Die Frau ist ein verächtliches, niederes Geschöpf, das Schläge verdient, das kein Mitleid verdient. Dies gilt in gleichem Maße für alle Frauen – jede Angehörige einer anderen, der Nichtganoven-Welt wird vom Ganoven verachtet. Die Vergewaltigung »im Chor« kommt nicht so selten vor in den Bergwerken des Hohen Nordens. Die Chefs lassen ihre Ehefrauen in Begleitung einer Wache reisen; eine Frau fährt oder geht allein überhaupt nirgendwohin. Kleine Kinder werden auf gleiche Weise bewacht: die Schändung minderjähriger Mädchen ist der ewige Traum jedes Ganoven. Dieser Traum bleibt nicht immer nur Traum.
In der Verachtung für Frauen wird der Ganove von früh auf erzogen. Seine Prostituiertenfreundin prügelt er so oft, dass diese, so heißt es, die Liebe nicht mehr in all ihrer Fülle empfinden kann, wenn die fällige Prügel aus irgendeinem Grund ausbleibt. Die sadistischen Neigungen werden von der Ganoven-Ethik selbst herangezogen.
Der Ganove darf kein kameradschaftliches, freundschaftliches Gefühl für die »Weiber« entwickeln. Er darf auch kein Mitleid haben für den Gegenstand seiner unterirdischen Vergnügungen. Keine Gerechtigkeit in Bezug auf die Frau der eigenen Welt ist möglich – die Frauenfrage liegt für die Ganoven außerhalb der »Zone« des Ethischen.
Aber es gibt eine einzige Ausnahme von dieser düsteren Regel. Es gibt eine einzige Frau, die nicht nur geschützt ist vor Angriffen auf ihre Ehre, sondern sogar auf einem hohen Sockel steht. Eine Frau, die von der Ganovenwelt poetisiert wird, eine Frau, die Gegenstand der Ganovenlyrik, der Kriminalfolklore vieler Generationen wurde.
Diese Frau ist die Mutter des Diebes.
Die Phantasie des Ganoven zeichnet eine böse und feindliche Welt, die ihn von allen Seiten umgibt. Und in dieser, von seinen Feinden bevölkerten Welt, gibt es nur eine lichte Figur, die der reinen Liebe und der Achtung und Verehrung würdig ist. Das ist die Mutter.
Ein Kult der Mutter bei gehässiger Verachtung für die Frau als solche – das ist die ethische Formel der Kriminellen in der Frauenfrage, mit der besonderen Sentimentalität des Gefängnisses ausgedrückt. Über die Sentimentalität des Gefängnisses wurde viel Gehaltloses geschrieben. In Wirklichkeit ist sie die Sentimentalität des Mörders, der ein Rosenbeet mit dem Blut seiner Opfer gießt. Die Sentimentalität eines Menschen, der die Wunde eines Vögelchens verbindet und imstande ist, dieses Vögelchen eine Stunde später lebendig mit den eigenen Händen zu zerreißen, denn das Schauspiel des Todes eines lebendigen Geschöpfs ist das beste Schauspiel für einen Ganoven.
Man muss das wahre Gesicht der Urheber des Mutterkults kennen, eines Kults, der umflort ist von poetischem Nebel.
Mit derselben Zügellosigkeit und Theatralik,
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