Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
die den Ganoven veranlasst, mit dem Messer auf der Leiche eines getöteten Abtrünnigen zu »unterzeichnen« oder eine Frau öffentlich am helllichten Tag, vor aller Augen zu vergewaltigen, oder ein dreijähriges Mädchen zu schänden, oder eine männliche »Sojka« mit Syphilis anzustecken – mit derselben Expressivität poetisiert der Ganove die Gestalt der Mutter, vergöttert sie, macht sie zum Gegenstand feinster Gefängnislyrik und zwingt alle, ihr aus der Ferne jegliche Achtung zu erweisen.
Auf den ersten Blick ist das Gefühl des Diebes für seine Mutter sozusagen das einzig Menschliche, das in seinen widerwärtigen, entstellten Gefühlen geblieben ist. Der Ganove tritt immer auf wie der ehrerbietige Sohn, jedes grobe Gespräch über jede fremde Mutter wird in der Ganovenwelt unterbunden. Die Mutter ist eine Art hohes Ideal – und zugleich etwas vollkommen Reales, das jeder hat. Eine Mutter, die alles verzeiht, die immer Mitleid hat.
»Damit wir leben konnten, schuftete Mamascha. Und ich fing heimlich mit dem Stehlen an. Du wirst ein Dieb, genau wie dein Papascha, sagt’ mir die Mutter, tränenüberströmt.«
So wird es gesungen in einem klassischen Lied der Kriminellen, »Das Schicksal«.
Weil er versteht, dass in seinem ganzen stürmischen und kurzen Diebesleben nur die Mutter bis zum Schluss bei ihm bleibt, verschont der Dieb sie mit seinem Zynismus.
Aber auch dieses einzige sozusagen lichte Gefühl ist verlogen wie alle Seelenregungen des Ganoven.
Die Verherrlichung der Mutter ist Tarnung, ihr Lob ein Mittel des Betrugs und bestenfalls nur ein mehr oder weniger deutlicher Ausdruck der Gefängnissentimentalität.
Auch in diesem scheinbar erhabenen Gefühl lügt der Dieb von Anfang bis Ende, wie in allem, was er behauptet. Kein einziger Dieb hat seiner Mutter jemals eine Kopeke Geld geschickt, sie auch nur auf seine Weise unterstützt, statt die gestohlenen Tausende Rubel zu vertrinken und zu verfeiern.
In diesem Gefühl für die Mutter ist nichts als Heuchelei und theatralische Verlogenheit.
Der Kult der Mutter ist eine Art Nebelschleier, der die hässliche Welt der Diebe verhüllt.
Der Kult der Mutter, der nicht übertragen wird auf die Ehefrau und die Frau als solche, ist Betrug und Lüge.
Die Einstellung zur Frau ist der Lackmustest jeglicher Ethik.
Wir bemerken hier auch, dass gerade der Kult der Mutter, der neben der zynischen Verachtung für die Frau betrieben wird, Jessenin in der kriminellen Welt schon vor drei Jahrzehnten zu einem so populären Autor gemacht hat. Aber dazu an anderer Stelle.
Einer Diebin oder Diebesfreundin, einer Frau, die direkt oder indirekt zur kriminellen Welt gehört, ist jede Art von »Romanen« mit
frajern
verboten. Die Verräterin wird übrigens in solchen Fällen nicht umgebracht, nicht »kaltgemacht«. Das Messer ist eine zu edle Waffe, um es für eine Frau zu verwenden – für sie reicht ein Stock oder Schürhaken.
Ganz anders, wenn es um die Verbindung eines männlichen Diebes mit einer freien Frau geht. Das ist Ehre und Ruhm, Gegenstand prahlerischer Erzählungen des einen und des heimlichen Neids von vielen. Solche Fälle sind gar nicht so selten. Allerdings werden um sie herum gewöhnlich so viele Märchen aufgetürmt, dass die Wahrheit zu erkennen sehr schwer ist. Eine Stenotypistin wird zur Staatsanwältin, eine Kurierin zur Betriebsdirektorin, eine Verkäuferin zur Ministerin. Die Legenden verdrängen die Wahrheit irgendwo hinter die Bühne, ins Dunkle, und man wird aus dem Schauspiel nicht klug.
Zweifellos hat ein Teil der Ganoven in seinen Heimatstädten Familie, eine Familie, die von den Ganovenehemännern längst verlassen wurde. Die Frauen mit den kleinen Kindern kämpfen jede auf ihre Weise mit dem Leben. Manchmal kommen die Männer aus den Haftorten zu ihren Familien zurück, gewöhnlich nicht für lange. Ihr »Nomadengeist« lockt sie zu neuer Wanderschaft, und auch die örtliche Kriminalpolizei sorgt für die schnelle Abreise des Ganoven. Und in den Familien bleiben die Kinder zurück, denen der väterliche Beruf nichts Schreckliches ist, sondern Mitleid weckt, mehr noch – den Wunsch, den väterlichen Weg einzuschlagen, wie im Lied »Das Schicksal«:
Wer Kraft besitzt, sich mit dem Schicksal anzulegen
Der führe bis zum Ende diesen Kampf.
Ich bin sehr schwach, doch wird mir eins nur bleiben –
Den Weg zu gehen, den mein toter Vater nahm.
Die angestammten Diebe bilden denn auch den Kernkader der Verbrecherwelt, ihre
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