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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Kirchturm.«
    Tobias erzählte von der Schokoladenhochburg, die hier einst gewesen ist – »So viele Schokoladenfabriken in einer Stadt, das muß geduftet haben!« –, von Rudolf Steiners wildem Leben bei den Tischerückern und Geisterbeschwörern in Berlin, bevor er mit Emil Molts Geld eckenfreie Gebäude auf der Uhlandshöhe errichten ließ, von den Neckarauen und ihrem Idyll. Leonie hatte von den meisten Sachen noch nie etwas gehört. Immerhin konnte sie die schwarzbrüstige Teufelin aus der Heumadener Kirche beisteuern, die ihm natürlich bekannt war. Auf der Toilette zog sie sich die Lippen nach. Sie wollte gefallen, beschwor ihre Lieblingsserie: ›Desperate Housewives‹. »Das sind auch Geschichten. Nicht so klamaukig und albern wie manche Soaps, auch nicht bieder. Eher schräg und manchmal bitter. Richtig gut eben, ich kann nicht sagen, warum.«
    Auf der Charlottenstraße rollt die Blechlawine. Leonie reiht sich ein, kreuzt das Olgaeck. Sie will nicht nach Hause. Vielleichtnoch zur Reinigung? Sie hat keine Lust, Simons nach chemischen Dünsten müffelnde Anzüge abzuholen, überhaupt etwas für ihn zu tun. Vor dem Wilhelmspalais dreht sie um und fährt die Charlottenstraße wieder hoch. Die Ampeln stehen auf Rot. Fußgänger drängen sich durch die häßlichen Passagen des Olgabaus. Billigstbäcker, Billigstdrogerie, Billigstklamotten, dazwischen kämpfen ein Optiker, eine Rahmenhandlung und ein Geschäft für Kristalle ums Überleben. Oft stehen Leute davor und halten die Hände gegen die Scheibe, um die Aura der Steine aufzufangen. Die Linie 15 keucht aus dem Tunnel und klingelt ein paar Fußgänger von den Schienen am Übergang. Leonie fühlt jedesmal Erleichterung, die letzte der alten Stuttgarter Straßenbahnen wiederzusehen, eine schwankende gelbe Raupe mit Fähnchen auf dem Fahrerhaus. Sie weiß nicht, wann sie endgültig ausrangiert wird, um Platz zu machen für die kastenförmige Stadtbahn. Sie dreht das Radio auf. Madonnas arrogante Stimme: Like a virgin, touched for the very first time, and your heart beats, next to mine, like a virgin. Wenn doch im ›Hexle‹ gestern nur Madonna gelaufen wäre, die macht Leonie nur aggressiv, nicht sentimental.
    Aber es lief Spandau Ballet. Was mußte sie auch mit dem Fuß wippen, mitsummen: This is the sound of my soul, always slipping from my head. My love is like a hard prison wall, why do you make me standing so . . . »Wenn dich das so in Bewegung bringt, müssen wir jetzt wohl tanzen, zu diesen Begleitmusikanten des Poppertums.« Tobias legte ihr den Arm um die Schultern. Sie lehnte sich gegen ihn. Es fühlte sich nicht verkehrt an. Conny tanzte mit Wolfgang. In den Drehungen trafen sich ihre Blicke, der letzte war gepaart mit einem Kopfschütteln. Leonie sah weg.
    Sie biegt kurz vor dem Gebäude der Technischen Oberschule in die Constantinstraße ein. Das Kuppeldach sitzt unter einem Drahtnetz, ein Taubenschutz für die grünspanigen Verzierungen. Die Hochhäuser an der Ecke ragen wie überdimensionaleTetrapacks in den Himmel. Leonie umfährt die verschmutzte Grünanlage mit den Glascontainern. Rechts liegt das Parkhaus mit der blauen Leuchtschrift über dem Eingang. Eine Treppe führt zu dem kleinen Autohaus hinauf. Hinter der Schaufensterscheibe glänzen ein paar Sportwagen. Simon hält hier immer inne, die Mädchen zerren ihn dann weiter. Sie sieht die hellerleuchtete Bäckerei, eingerahmt von unscheinbaren Nachkriegsbauten. Würfel, jede Menge Würfel. Gelbe Zettel kleben an den Schaufensterscheiben: »Es ist wieder da, unser Weihnachtsgebäck!« Davor steht ein großer kahler Baum. Im Sommer beschirmt er Plastikstühle und Tischchen, es wird hausgemachtes Eis angeboten. Einmal waren sie zusammen hier. Die Gesichter der Mädchen verschmierten sich mit den ewig gleichen Sorten, Vanille, Erdbeere, Schokolade. Mit geschlossenen Augen bohrten sie ihre Zungen in die kalte Süße, Blätterschatten auf bunten Shirts, staubige Sandalenfüße. Daneben führt eine Staffel hinunter auf die Olgastraße. Über ihre flachen Stufen läuft mit grauen Betonrinnen die Kinderwagenspur. Lisa liebt es, darauf herumzubalancieren, während sie sich am Geländer festhält. Sie ist noch nie gestolpert. Die Constantinstraße steigt steil an, um dann im Fallen ihr Panorama vor Leonie zu eröffnen: Zwei schnurgerade Reihen von Altbauten stehen im Zwielicht. Leonie kneift die Augen zusammen.
    Tobias’ Tübinger Hotelzimmer war ungemütlich. Sie hatten nur eine Nachttischlampe

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