Küss den Wolf
Kumuluswolken am Himmel zu einer dichten Decke zusammen und verdunkelten die Sonne. Aus der Ferne vernahm ich bedrohliches Grollen, der Duft der Buschwindröschen wurde intensiver und Wind raschelte durch die Blätter der Laubbäume. Dann erfasste eine plötzliche Sturmböe die Baumkronen der Nadelbäume über mir und einige Tannenzapfen kullerten mir bräunlich-silbern schimmernd vor die Füße.
Ich dachte Nichts wie weg hier! und rannte, so schnell ich konnte, Richtung Haus. Dort angekommen, fiel die Terrassentür ins Schloss und ich blieb keuchend vor der Glasfront stehen, während der Sturm immer stärker wurde. Voller Panik kramte ich in der Tasche meiner Jeans nach dem Haustürschlüssel, doch leider vergebens. Offenbar hatte ich Idiot ihn drinnen gelassen. Als es zu regnen begann, flitzte ich, so schnell ich konnte, ums Haus und klingelte bei Irene. Doch keiner öffnete.
Dann rannte ich zurück und stellte mich unter das kleine Dach über der Eingangstür, um mich, so gut es ging, zu schützen. Der Regen wurde immer stärker und prasselte erbarmungslos auf die Erde herab. Mittlerweile war ich nass bis auf die Knochen, denn der Überbau bot nicht genug Schutz. Gerade als ich dachte, es könne nicht schlimmer kommen, verwandelten sich die dicken Tropfen in Hagelkörner.
Instinktiv hielt ich mir die Hände vors Gesicht und betete, dass der Sturm nachlassen oder Irene endlich nach Hause kommen würde.
Doch es geschah weder das eine noch das andere.
Stattdessen flogen mit einem Mal Steine durch die Luft.
Sie wurden herumgewirbelt und kreisten eine Weile, bis sie schließlich in einiger Distanz auf der Straße zu Boden krachten.
Während ich noch krampfhaft überlegte, woher sie gekommen sein könnten, wurde mir klar, dass es sich um Dachziegel von Theodoras Haus handelte. Mittlerweile hatte der Sturm eine solche Kraft entwickelt, dass ich mich am Türgriff festklammern musste, um nicht ebenfalls durch die Luft geschleudert zu werden.
»Bitte, hilf mir, lieber Gott«, betete ich und war vor Angst wie erstarrt. Es lief gerade alles so gut, ich wollte doch nicht… In diesem Moment bog ein Auto in Irenes Einfahrt und gleichzeitig flog ein weiterer Ziegel durch die Luft. Er donnerte nur ganz knapp hinter dem Wagen auf den Asphalt.
Durch die Scheibe konnte ich Irenes entsetztes Gesicht sehen.
Sie schaute einige Male ängstlich nach oben, bevor sie langsam die Tür öffnete. Dann erst sah sie mich. »Pippa, um Himmels willen«, schrie sie gegen den Sturm an, sprang aus dem Wagen, winkte mir und öffnete die Haustür. Vollkommen durchnässt, aber überglücklich, mit dem Schrecken davongekommen zu sein, folgte ich ihr.
31.
Montag, 26. April
Rotkäppchen aber war nach den Blumen herumgelaufen, und als es so viel zusammenhatte, dass es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter wieder ein, und es machte sich auf den Weg zu ihr. Es wunderte sich, dass die Tür aufstand, und wie es in die Stube trat, so kam es ihm so seltsam darin vor, dass es dachte: Ei, du mein Gott, wie ängstlich wird mir’s heute zumut, und bin sonst so gerne bei der Großmutter! Es rief: »Guten Morgen«, bekam aber keine Antwort. Darauf ging es zum Bett und zog die Vorhänge zurück.
Da lag die Großmutter und hatte die Haube tief ins Gesicht gesetzt und sah so wunderlich aus. »Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren!«
»Dass ich dich besser hören kann!«
»Ei, Großmutter, was hast du für große Augen!«
»Dass ich dich besser sehen kann!«
»Ei, Großmutter, was hast du für große Hände!«
»Dass ich dich besser packen kann!«
»Aber Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul!«
»Dass ich dich besser fressen kann!«
Kaum hatte der Wolf das gesagt, so tat er einen Satz aus dem Bette und verschlang das arme Rotkäppchen.
Schweißgebadet wachte ich auf. Meine Zähne klapperten und ich hatte vollkommen die Orientierung verloren. Was war passiert? War mit Theodora alles okay? Verena saß neben mir und fuhr mir mit einem feuchten Lappen über die Stirn. Besorgt blickte sie mich an. »Du hattest einen bösen Traum, mein Spätzchen. Aber jetzt ist alles in Ordnung, du bist hier in deinem Bett und ich bin auch da.«
»Geht es Oma gut?«, fragte ich und hatte das Gefühl, meine Stimme käme von weit, weit her. »Ja, natürlich«, beschwichtigte Verena mich und ließ den Lappen zurück in die gläserne Schale gleiten, die auf meinem Nachttisch stand. »Sie wird planmäßig entlassen… aber du
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