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Küss den Wolf

Küss den Wolf

Titel: Küss den Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriella Engelmann
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Kartons waren aufgeweicht, der Sturm hatte Dreck und kleine Äste hereingeweht und hier und da lagen tote Insekten herum. Am schlimmsten war jedoch die Ecke betroffen, in der Großmutter ihre alten Hüte und Ottokars Bühnenkostüme aufbewahrt hatte. »Ich fürchte, dass du das meiste davon wegwerfen musst«, murmelte Leo betroffen. Er hob einen Zylinder vom Boden auf, der so zerbeult war, dass in der tiefen Delle verwelkte Blätter schwammen. Der Schrank, in dem die Anzüge meines Großvaters hingen, war durch das Wasser aufgeschwemmt und bildete nun ein unschönes Gemisch aus billigem Sperrholz und alten, vermodernden Stoffen.
    »Pippa, nun wein doch nicht«, sagte Leo und nahm mich in den Arm, während die Tränen unkontrolliert meine Wangen hinunterkullerten. Dieser Dachboden barg so unendlich viele Erinnerungen. Ich hatte als Kind beinahe jeden Tag hier oben gespielt, mich verkleidet, Omas Hüte vor dem fast blinden Spiegel ausprobiert, der auf der alten Kommode stand. Wenn ich müde geworden war, hatte ich mich auf einen der Orientteppiche gelegt, die meine Großeltern auf einem Basar in Istanbul gekauft hatten, und so lange geschlafen, wie ich wollte. Oft war Theodora heraufgeklettert und hatte mich mit Kakao und selbst gebackenen Plätzchen geweckt und sich zu mir auf den Boden gesetzt. Dann hatte sie mir Geschichten von Feen, Elfen und anderen Zauberwesen erzählt. »Schschsch Pippa, es wird alles wieder gut«, versuchte Leo, mich zu trösten, und wiegte mich in seinen Armen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Aber irgendwann befreite ich mich aus Leos Umarmung, straffte die Schultern und beschloss, nach vorne zu schauen. Was geschehen war, war geschehen und ließ sich nicht mehr ändern. Wenigstens war Leo an meiner Seite und half mir dabei, dass Theodora bald wieder in ein intaktes Zuhause zurückkehren konnte. Also stopften wir alles, was nicht mehr zu retten war, in blaue Müllsäcke, die Verena extra besorgt hatte. Dinge, die noch repariert werden konnten, kamen in Kartons mit der Aufschrift »zu erledigen«, alles weitere in andere Kisten. Bis auf die Müllsäcke brachten wir Theodoras Hab und Gut in eine kleine Abstellkammer, die von Wasser und Wind zum Glück verschont geblieben war. Dann begann Leo, den Fußboden zu kehren, während ich die Ziegel zusammensammelte, die zum Glück nicht auch auf die Straße geschleudert worden waren. Kurz bevor ich damit fertig war, klingelte das Telefon. »Das ist bestimmt meine Mutter«, erklärte ich und kletterte vorsichtig nach unten. Erstaunlich, dass Oma in ihrem Alter noch mit dieser Leiter klarkam.
    »Na, wie geht’s dir, Spätzchen?«, ertönte die gut gelaunte Stimme Verenas am anderen Ende der Leitung. »Nicht so doll«, antwortete ich, während ich wieder mit den Tränen kämpfte. Ich berichtete in allen Einzelheiten vom Ausmaß des Schadens. Nachdem Mum versucht hatte, mich zu trösten, bat sie mich, in Theodoras Bauernschrank nach der Police für die Hausratversicherung zu suchen: »Ich habe zwar alle Ordner hier, von denen ich dachte, dass sie dort drin sein könnte, aber leider habe ich nichts gefunden«, erklärte sie und ich befürchtete das Schlimmste. »Meinst du… meinst du, dass es sein könnte, dass sie gar keine abgeschlossen hat?«, fragte ich ängstlich, obwohl ich mir die Antwort im Grunde fast denken konnte. Einer von Theodoras Wahlsprüchen lautete nämlich: »Wenn du willst, dass dir was passiert, schaff dir einfach eine Versicherung an!«
    Ich verabschiedete mich mit den Worten: »Ich sehe mal eben nach und ruf dich an, sobald ich etwas gefunden habe.« Nachdem ich aufgelegt hatte, ging ich ins Wohnzimmer. Mit pochendem Herzen machte ich mich ans Werk und durchwühlte erst die Schreibtischschubladen, dann den unteren Teil der Küchenvitrine, die Buchregale und sah zu guter Letzt, obwohl es total albern war, unter Großmutters Matratze nach. Doch alles, was ich dort fand, war ein handgeschriebener Zettel, auf dem stand:
    Liebe Einbrecher, es tut mir leid,
    aber soooo doof bin ich nun wirklich nicht.
    Schönen Tag noch!
    »Alles klar?«, fragte Leo, der plötzlich hinter mir stand.
    Erschrocken fuhr ich zusammen, weil ich ihn nicht hatte kommen hören. »Leider nein«, antwortete ich mit belegter Stimme. Das Dachdecken würde mit Sicherheit Unsummen kosten. Das, addiert mit den Kosten für die neue Heizungsanlage und für die künftigen Reparaturarbeiten, ergab zusammen die totale Katastrophe! »Es sieht

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