Kuess mich doch - Roman
noch.
Charlotte und Sylvia hatten gegenüber des Juwelierladens an der Ecke 47. Straße und Park Avenue ihren Posten bezogen, um ihrem Opfer aufzulauern. Sie trugen Kopftücher und große Jackie-O-Sonnenbrillen auf der Nase. Vorhin waren sie bereits im Geschäft gewesen und hatten mit Rickys Tochter gesprochen. Anna hatte ihnen erzählt, ihr Vater sei fischen gegangen und würde hoffentlich bald zurückkommen.
Charlotte und Sylvia zweifelten allerdings am Wahrheitsgehalt dieser Behauptung. Ricky gehörte zu den Menschen, die sich nur ungern die Hände schmutzig machen, deshalb waren sie übereingekommen, den Laden zu überwachen, bis er zurückkam. Es war zwar eher unwahrscheinlich, aber vielleicht ahnte ja auch er, dass es Probleme geben könnte und ging auf Nummer sicher. Möglicherweise kam er erst, wenn der Laden geschlossen war, oder er versuchte, sich unbemerkt hineinzuschleichen. Er trug schließlich nicht ohne Grund den Spitznamen »die Schlange«.
Während sie nach Ricky Ausschau hielten, hing Charlotte unwillkürlich ihren Gedanken darüber nach, wie es überhaupt so weit gekommen war. Sylvia und sie waren zusammen in der Bronx aufgewachsen, in einem der ärmsten Viertel der Stadt. Sie hatten beide nicht vorgehabt, den traditionellen Weg zu beschreiten, waren nicht gewillt gewesen, zu heiraten und eine Familie
zu gründen, wie es damals für Frauen die Norm gewesen war, nur um finanziell abgesichert zu sein. Deshalb hatten sie oft Gelegenheitsjobs angenommen, um sich etwas Geld zu verdienen. Sie hatten als Kellnerinnen in diversen Lokalen gearbeitet, und, ja, ab und an hatten sie auch mal etwas mitgehen lassen, um nicht hungern zu müssen.
Wer konnte denn ahnen, dass diese Vergangenheit sie so viele Jahre später einmal einholen würde?
Sylvia hatte Ricky bei einem Blinddate kennengelernt. Er hatte damals halbtags in einem Juweliergeschäft gejobbt, und später hatte sie durch ihn dort eine Anstellung bekommen. Irgendwann war er dann auf die Idee verfallen, in Robin-Hood-Manier die Reichen zu bestehlen und die Beute an die Armen weiterzugeben, wobei vor allem er selbst der Arme war. Er musste in Sylvia eine verwandte Seele erkannt haben, denn er ernannte sie zu seiner Komplizin, und sie wiederum brachte Charlotte ins Spiel. Sylvia hatte Ricky immer geliebt, doch kaum hatte er Charlotte kennengelernt, hatte er nur noch Augen für sie gehabt, und Sylvia war fortan zur platonischen Freundin degradiert worden. Durch diese komplizierte Verflechtung von Zuneigung und unerwiderter Liebe war ihre Freundschaft und die Zusammenarbeit in ihrem Dreiergespann zwar stets auf etwas wackligen Beinen gestanden, aber irgendwie hatte es trotzdem funktioniert.
Bis zu jener verhängnisvollen Nacht, als Charlotte ihre Freundin mit Ricky im Bett erwischt hatte. Von
diesem Tag an hatte sie mit den beiden kein Wort mehr gewechselt, und kurze Zeit später hatte es das Schicksal gut mit ihr gemeint und dafür gesorgt, dass ihr geliebter Henry ihren Weg kreuzte. Charlotte hatte an seinem Tisch gekellnert, und er hatte sie um ein Rendezvous gebeten. In seiner Gegenwart hatte sie sich lebendig gefühlt. Glücklich. Und so hatte sie beschlossen, dass es an der Zeit war, ein normales Leben zu führen. Leider war sie nicht gleich schwanger geworden, und dann hatte Henry in den Koreakrieg ziehen müssen.
In seiner Abwesenheit war Charlotte derart gelangweilt und einsam gewesen, dass sie gleich eingewilligt hatte, als Ricky eines Tages vor ihrer Tür gestanden und gefragt hatte, ob sie bereit sei für ein allerletztes Husarenstück. Er hatte auch Sylvia ausfindig gemacht, und so hatten sie gemeinsam den Lancaster-Coup geplant. Charlotte hatte das Haus der Familie gekannt, weil Henry dort halbtags als Chauffeur gearbeitet hatte. Dieser Teil der Geschichte, die sie Lexie erzählt hatte, entsprach also den Tatsachen.
»Ich begreife einfach nicht, wie eine derart miese Ratte eine so hübsche, liebenswürdige Tochter haben kann«, bemerkte Sylvia und riss Charlotte damit aus ihren Gedanken über die Vergangenheit.
Sie schaute auf und sah Anna aus dem Geschäft kommen. Wahrscheinlich ging sie zum Mittagessen. Vorhin war noch eine junge Verkäuferin bei ihr gewesen, die jetzt offenbar im Laden die Stellung hielt.
»Als du mit ihm ins Bett gegangen bist, hast du
ihn nicht für eine miese Ratte gehalten.« Charlotte war mit ihren Gedanken augenscheinlich noch in der Vergangenheit, sonst wäre ihr diese Bemerkung nicht herausgerutscht.
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