Küss mich Engel
winzigen Käfig gesperrt und ihn gezwungen, sein Leben unter den Blicken seiner Todfeinde zu fristen. Und jetzt würde er getötet werden, bloß weil sie übersehen hatte, dass sein Käfig zu den reparaturbedürftigen gehörte.
Sie bewegte sich so rasch, wie sie es wagte, und stellte sich zwischen ihren Mann und den Tiger.
»Geh aus dem Weg, Daisy.« Das ruhige Timbre seiner Stimme machte seinen Befehl nicht weniger autoritär.
»Ich lass nicht zu, dass du ihn tötest«, flüsterte sie zurück. Und dann ging sie langsam auf den Tiger zu.
Seine goldenen Augen glühten sie an. Brannten sich durch sie hindurch. Sie fühlte, wie seine Angst in jede ihrer Körperzellen sickerte und sie mit ihm eins machte. Ihre beiden Seelen verschmolzen miteinander, und sie hörte ihn in ihrem Herzen.
Ich hasse sie.
Ich weiß.
Bleib stehen.
Ich kann nicht.
Sie kam immer näher, bis sie nur noch etwa anderthalb Meter von ihm entfernt stand. »Alex wird dich töten«, wisperte sie, tief in die goldenen Augen des Raubtiers blickend.
»Daisy, bitte.« Sie hörte die Anspannung in Alex Stimme, und es tat ihr leid, dass sie ihm so viel Kummer machen musste, aber sie konnte einfach nicht anders handeln.
Als sie sich dem Tiger noch mehr näherte, fühlte sie, dass Alex seine Position veränderte, damit er einen klaren Schuss aus einer anderen Richtung bekam. Sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb.
»Ich kann nicht zulassen, dass du stirbst«, flüsterte sie.
»Komm mit mir.« Langsam streckte sie die Hand nach ihm aus.
Ein Teil von ihr erwartete, dass seine mächtigen Kiefer jeden Moment um ihren Arm zuschnappten, während ein anderer Teil von ihr - ihre Seele wahrscheinlich, denn nur die Seele konnte sich der Stimme der Logik so hartnäckig widersetzen der Teil von ihr also, der ihre Seele war, kümmerte sich nicht länger darum, ob sie nun einen Arm hatte oder nicht, ob sie starb oder nicht. Vorsichtig, ganz vorsichtig berührte sie ihn am Oberkopf, zwischen seinen Ohren.
Sein Fell fühlte sich gleichzeitig weich und stoppelig an. Sie ließ ihm Zeit, sich an ihre Berührung zu gewöhnen und fühlte, wie seine Körperwärme in ihre Handfläche sickerte. Die weiche Innenseite ihres Arms strich über seine Schnurrhaare, und sie fühlte seinen Atem durch den dünnen Baumwollstoff ihres T-Shirts. Er verlagerte sein Gewicht und sank langsam zu Boden, die Vordertatzen ausgestreckt.
Ruhe sickerte in ihren Körper und trat an die Stelle der Angst. Sie hatte das wundervolle Gefühl, endlich nach Hause gekommen zu sein, ein Gefühl des Friedens, wie sie es noch nie verspürt hatte. Sie wurde eins mit dem Tiger, der Tiger wurde sie, und sie wurde der Tiger. In einem Sekundenbruchteil verstand sie auf einmal alle Mysterien der Schöpfung, verstand, dass alle Lebewesen zusammengehörten, Teil des anderen waren, und alle ein Teil von Gott, verbunden durch die Liebe auf Erden, um füreinander zu sorgen. Da wusste sie auf einmal, dass Angst, Krankheit und Tod bloß eine Illusion waren. Nichts existierte wirklich, außer der Liebe.
Und in diesem Moment erkannte sie auch, dass sie Alex auf die irdische Weise liebte, in der eine Frau einen Mann lieben konnte.
Es kam ihr ganz natürlich vor, die Arme um den Hals des Tigers zu schlingen. Noch natürlicher war es, die Augen zu schließen und die Wange in sein Fell zu kuscheln. Die Zeit verrann. Sie hörte das Pochen seines Herzens und darüber ein tiefes, rollendes Schnurren.
Ich liebe dich.
Ich liebe dich.
»Ich muss dich wieder zurückbringen«, flüsterte sie schließlich, und Tränen sickerten durch ihre geschlossenen Augenlider. »Aber ich werde dich nie verlassen. Niemals.«
Das Schnurren verschmolz mit dem Herzschlag.
Sie blieb noch eine Weile so bei ihm sitzen, die Wange an seinen Hals gekuschelt. Sie hatte noch nie einen so tiefen inneren Frieden empfunden, nicht mal, als sie zwischen Taters Vorderbeinen gesessen hatte. Es gab so viel Böses auf der Welt, aber nicht hier. Dieser Ort war heilig.
Nur allmählich rückten die anderen wieder in ihr Blickfeld. Sie standen stocksteif da, wie Statuen. An den Seiten. Vor ihr. Hinter ihr.
Alex hatte die Pistole noch immer auf Sinjun gerichtet, der dumme Mann. Als ob sie zulassen würde, dass er diesem Tier weh tat. Seine tiefgebräunte Haut war kalkweiß geworden, und sie wusste, dass er ihretwegen schreckliche Angst ausstehen musste. Mit dem Echo von Sinjuns Herzschlag an ihrer Wange erkannte sie auf einmal, dass sie Alex‘ Welt
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