Küss mich Engel
gleich geschafft, mein Schatz.«
Der Knoten war groß und ungeschickt, aber er hielt. Sie ließ die Arme sinken. Alex hob sie vom Schemel und schloss sie in seine Arme.
Dort blieb sie ein paar tröstliche Sekunden lang, bevor sie hochblickte in die Augen, die denen des Tigers so sehr glichen. Ihre neue Gewissheit, dass sie diesen Mann liebte, erfüllte sie mit Ehrfurcht. Sie waren so unterschiedlich, und dennoch hörte sie den Ruf seiner Seele so klar, als hätte er laut zu ihr gesprochen. »Tut mir leid, dass ich dir angst gemacht hab.«
»Darüber reden wir später.«
Jetzt würde er sie zum Wohnwagen zurückschleppen, um ihr eine private Standpauke zu halten. Vielleicht war dies ja der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, und er würde sie fortschicken. Sie schob den Gedanken sofort beiseite und trat einen Schritt zurück. »Ich kann jetzt noch nicht weg. Ich hab Sinjun versprochen, noch ein Weilchen bei ihm zu bleiben.«
Der angespannte Zug um seine Mundwinkel vertiefte sich noch, doch er fragte nicht weiter. »Na gut.«
Ihr Vater kam angestürmt. »Du hast doch noch nicht einmal den Verstand eines Idioten - Es ist ein Wunder, dass du noch am Leben bist! Was ist bloß in dich gefahren? Tu so was ja nie wieder. Wenn du auch nur -«
Alex unterbrach ihn. »Halt den Mund, Max. Ich kümmere mich schon darum.«
»Aber -«
Alex zog eine Augenbraue hoch, und Max Petroff verstummte. Das war alles, was Alex tat - eine Augenbraue hochziehen aber es genügte. Sie hatte noch nie gesehen, dass ihr dominanter Vater einem anderen gegenüber so rasch klein beigab, und dabei fiel ihr wieder ein, was er ihr vorhin erzählt hatte. Seit Jahrhunderten war es die Pflicht der Petroffs, sich den Wünschen der Romanovs zu fügen.
In diesem Moment akzeptierte ein Teil von ihr, was sie von ihrem Vater gehört hatte, doch sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf Sinjun, der rastlos und nervös wirkte.
»Amelia fragt sich sicher schon, wo ich geblieben bin«, sagte ihr Vater hinter ihr. »Ich gehe jetzt besser. Auf Wiedersehen, Theodosia.« Er berührte sie nur selten, so dass sie überrascht war, als er ihr leicht mit der Hand über die Schulter strich. Bevor sie darauf reagieren konnte, hatte er sich jedoch bereits an Alex gewandt und sagte auch ihm auf Wiedersehen, dann verschwand er.
Die Leute machten sich wieder an ihre normalen Beschäftigungen. Jack unterhielt sich mit der Erzieherin und half ihr, die Kinder zum Kindergarten zurückzuführen. Neeco und die anderen gingen wieder an die Arbeit. Sheba kam zu ihr.
»Gute Arbeit, Daisy.«
Ihre Worte kamen nur widerwillig. Daisy glaubte zwar, so etwas wie Respekt in den Augen der Zirkusbesitzerin erkennen zu können, hatte jedoch gleichzeitig das unheimliche Gefühl, dass Sheba sie nun noch mehr hasste. Sheba vermied es, Alex anzusehen, und ließ sie allein bei Sinjun zurück.
Der Tiger stand angespannt und wachsam in seinem Käfig, betrachtete die beiden jedoch gleichzeitig mit dem für ihn typischen Hochmut. Sie legte die Hände um die Käfigstangen. Sinjun regte sich. Sie hörte Alex aufkeuchen, als der Tiger mit einem Mal seinen riesigen Schädel an ihren Fingern rieb.
»Ich wünschte, du würdest das nicht tun.«
Sie griff noch weiter zwischen die Stäbe, um Sinjun hinter den Ohren zu kraulen. »Er tut mir nichts. Er respektiert mich zwar nicht, aber er liebt mich.«
Alex stieß ein leises Lachen aus und trat zu ihrer Überraschung von hinten an sie heran und nahm sie in seine Arme, während sie den Tiger weiter streichelte. Er rieb seinen Kiefer an ihrem Kopf. »Ich hab noch nie im Leben eine solche Angst gehabt.«
»Es tut mir leid.«
»Nein, mir tut‘s leid. Du hast mich wegen der Käfige gewarnt, und ich hätte alle überprüfen müssen. Es ist meine Schuld.«
»Nein, meine. Ich bin für die Menagerie verantwortlich.«
»Wag es ja nicht, dir die Schuld zuzuschieben. Das lasse ich nicht zu.«
Sinjuns Zunge liebkoste ihr Handgelenk. Sie fühlte, wie sich Alex‘ Armmuskeln anspannten, als der Tiger sie ableckte.
»Würdest du jetzt bitte die Hände aus diesem Käfig nehmen?« fragte er leise. »Ich krieg noch einen Herzanfall wegen dir.«
»Gleich.«
»Das hat mich ohnehin schon zehn Jahre meines Lebens gekostet. Mehr zu verlieren, kann ich mir beim besten Willen nicht leisten.«
»Ich mag ihn streicheln. Außerdem ist er dir sehr ähnlich. Er verschenkt seine Zuneigung nicht leichtfertig, und ich will ihn nicht beleidigen, indem ich ihn jetzt
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