Küss mich Engel
Tür zu seinem Käfig schief an einer einzigen Angel herunter. Die weißen Flecken auf seinen Ohren waren zu sehen, und seine goldenen Augen waren auf ein kaum zehn Meter entferntes Objekt gerichtet.
Das pummelige kleine Engelchen im rosa Overall.
Das Kind hatte sich irgendwie von der Gruppe getrennt, und sein schriller Schrei war es gewesen, der Sinjuns Aufmerksamkeit erregt hatte. Das kleine Mädchen stand stocksteif da und heulte vor Angst, während ihre kleinen Ärmchen zuckten und ruderten. Ein Fleck breitete sich auf ihrem Overall aus, wo sie sich in die Hosen gemacht hatte.
Sinjun brüllte und zeigte seine messerscharfen, gebogenen Reißzähne, die dazu dienten, seine Beute festzuhalten, während er sie mit seinen riesigen Tatzen zerfetzte. Das kleine Mädchen schrie wieder, noch schriller. Sinjuns mächtige Muskeln zuckten, und Daisy wurde kreidebleich. Sie fühlte, dass er sich zum Sprung bereit machte. Dem Tiger musste das Kind mit seinen wild fuchtelnden Armen und schrillen Schreien wie eine besonders bedrohliche Beute erscheinen.
Neeco tauchte wie aus dem Nichts auf und eilte direkt auf Sinjun zu. Daisy sah den Elektroschocker in seiner Hand und machte unwillkürlich einen Schritt nach vorn. Sie wollte ihn warnen, das lieber nicht zu tun. Sinjun war nicht an den Schocker gewöhnt. Er würde sich nicht davon einschüchtern lassen wie die Elefanten; es würde ihn nur noch zorniger machen. Aber Neeco reagierte ganz instinktiv, er behandelte den Tiger auf die einzige ihm bekannte Art, als wäre er ein ungehorsamer Elefantenbulle.
Als sich Sinjun von dem Mädchen ab- und Neeco zuwandte, kam Alex von der anderen Seite her angerannt. Er sprintete auf das Kind zu, riss es hoch und brachte es in Sicherheit.
Und dann überstürzten sich die Ereignisse. Neeco rammte dem Tiger den Schocker in die Schulter. Das wütende Tier stieß ein Gebrüll aus, dass einem das Blut in den Adern gefror, und warf seinen massigen Leib Neeco entgegen. Der Elefantendompteur wurde zu Boden geschleudert und verlor dabei den Schocker, der außer Reichweite rollte.
Daisy hatte noch nie im Leben solche Angst gehabt. Sinjun würde Neeco in Stücke reißen, und sie konnte nichts dagegen tun.
»Sinjun!« Verzweifelt rief sie seinen Namen.
Zu ihrem Erstaunen hob der Tiger seinen Kopf. Ob er sie nun gehört hatte oder ob er einem namenlosen Instinkt folgte, sie konnte es nicht sagen. Ihre Beine waren derart schwach, dass sie sie kaum bewegen konnte, dennoch ging sie los. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Sie wusste nur, dass sie etwas tun musste.
Der Tiger verharrte zusammengekauert über Neecos flach ausgestrecktem Körper. Einen Moment lang glaubte sie schon, der Dompteur wäre tot, doch dann merkte sie, dass er sich lediglich vollkommen still hielt, weil er hoffte, der Tiger würde ihn dann möglicherweise vergessen.
»Daisy, keinen Schritt weiter.« Sie hörte den ruhigen Befehlston ihres Mannes. Und dann die Stimme ihres Vaters etwas schriller.
»Was tust du da? Komm sofort her!«
Sie ignorierte beide. Der Tiger drehte sich ihr leicht zu, und sie starrten einander an. Er hatte seine scharfen, gebogenen Zähne gefletscht und die Ohren flach angelegt. Seine Augen funkelten irr. Sie fühlte sein Entsetzen.
»Sinjun«, sagte sie sanft.
Lange Sekunden tickten vorüber. Sie sah etwas Rotbraunes zwischen Sinjun und dem big top aufblitzen, Sheba Quests Feuermähne, wahrend sie rasch zu Alex rannte, der das schreiende kleine Mädchen soeben an seine Erzieherin übergab. Sheba reichte Alex etwas, aber Daisys Verstand war viel zu erstarrt, als dass sie hätte sagen können, was es war.
Der Tiger trat über Neecos flach ausgestreckten Körper und richtete all seine wilde Aufmerksamkeit auf sie. Jeder Muskel in seinem herrlichen Körper war angespannt und sprungbereit.
»Ich hab eine Pistole.« Alex Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. »Beweg dich nicht.«
Er wollte Sinjun töten. Ihr Mann wollte Sinjun töten. Sie begriff, dass es logisch war - es standen überall Leute herum; der Tiger war außer sich vor Angst und ganz eindeutig eine Gefahr -, doch gleichzeitig wusste sie, dass sie es nicht zulassen konnte. Dieses herrliche Tier durfte nicht getötet werden, bloß weil er nach den Instinkten seiner Spezies handelte.
Sinjun hatte nichts Falsches getan, außer sich wie ein Tiger zu verhalten. Die Menschen waren diejenigen, die die Schuld trugen. Sie hatten ihn aus seiner natürlichen Umgebung gerissen, in einen
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